Philosophie

Körperbewusstsein im Raum – Meditation in Aktion

Die Bedeutung von Körperhaltungen

Von Georgie Grütter – Vortrag, gehalten während des Szenografie-Kolloquiums mit dem Titel
„Kreativität und Raumschöpfung“ im DASA Museum Dortmund, 2009

Ursprünglich erschienen in der Abhyasa Oktober 2010

„Der Körper ist der Bogen, die Körperhaltung der Pfeil, die Seele das Ziel.“

BKS Iyengar

„Unsere Ganzheit ist an ihrem greifbaren Teil der Leib, mit allem, was er an Vorgängen und Instanzen in sich schließt. Wir leben in ihm wie in einem verwunschenen Schloss. Wir sind zwar die Herren – aber was gehorcht uns? Wir sitzen in der Kammer unseres Bewusstseins, durch ihre Fenster gewahren wir draußen die Welt, durch ihre Tür kommt das Innere des Schlosses an uns heran. Wir geben Befehle und werden bedient, aber oft von fremden Gesichtern und auf eine befremdende wirre Weise … Das Haus ist verwunschen, wir kennen uns nicht aus in seiner verschlungenen Weitläufigkeit … Es spukt, Geräusche dringen durch die Wand – poltern Geister? Yoga wird eine Lampe genannt. Mit ihr in der Hand durchschreitet der Yogi die Gänge und Gewölbe seines Leibes, der seine Welt ist …“ (1)

Um was geht’s im Kern?
Die Frage ist: Wer bin ich, was ist mein Seinsgrund, wo fange ich an, worin gründe ich?

Oder auch: Was ist es, was uns Menschen wirklich menschlich macht, was ist die Wahrheit über das, was wirklich frei macht? Und nicht zuletzt die Frage nach dem Wesen des Körpers, die Frage, woraus und wodurch er eigentlich ist.

Wir sind, so „die Inder“, nur eine Lebensform unter vielen, verstrickt in Welt und Zeit, in unauflösbar scheinende Knäuel von Widersprüchen und Ängsten vor Alter, Leiden, Krankheit, dem Tod.

Jeder kennt es doch: Wir sind nicht selten selbstverliebte, oft unbelehrbare Lidschlag-existenzen im Sternenstaub, eigentlich eine ziemlich fragwürdige Spezies, vielleicht sogar bedeutungslos in Zeit und Raum, aber dennoch kann jeder Einzelne von uns etwas Kreatives tun. Wir können uns mittels Erkenntnis, mittels Yoga innerlich verwandeln, ja buchstäblich neu kreieren, uns eine ungeahnte Qualität von Lebenstiefe und Lebensfreude neu aus eigener Kraft erobern.

Indisches Philosophieren, jenes Nach- denken oder besser Nachsinnen über Leben und Vergänglichkeit, Schein und Sein, Wahrheit und Illusion, all die Rätsel in uns und um uns herum, wie z.B. das Mysterium der Existenz, das Geheimnis des Bewusstseins etc etc. – der indische Mensch hat viel meditiert und reflektiert und uns Abendländern im Kern eine einzige Botschaft ans Herz gelegt: Fragt euch, was euch wirklich frei macht, frei von Selbsttäuschung, Anhaftung, Leid und Verstrickung!! Oder anders herum: Wie erreiche ich Friede und Glück in mir, was muss ich tun?

Geht also in euch, haltet bewusst an, hört auf zu RENNEN, betrachtet eure Gedanken, euer Ego, die Gefühle, die Sehnsüchte, das unaufhörlich scheinende Hin und Her des Geistes, der Sinne, die wie trunkene Affen durch den Baum des Lebens turnen!!

Lauscht also in euer Herz hinein, dort, wo jene Kraft wohnt, die alles zusammenzuhalten scheint, eine Kraft, die größer ist als wir und gleichzeitig Teil von uns. Es ist die Erkenntnis dieser Kraft, die uns inneren Frieden, Harmonie, Einheit und geistige Klarheit zu schenken vermag, das Wissen um das, worauf es wirklich ankommt.

Und es ist der innere Raum unseres Körpers, in dem sich jener kreative Akt abspielt, ihn haben wir als einen Ausdrucksraum für jene Meditation in Aktion, er stellt jenen Bogen dar, von dem Iyengar spricht, und mit den yogischen Körperhaltungen sind wir in der Lage, jenen Bogen, verstanden als ein Instrument, bewusst zu bespielen.

„Sag du es ihm, sprach die Seele zum Körper, auf mich hört er ja nicht.

(Chin. Sprichwort)

Was bedeutet Yoga?

Was bedeutet Hatha-Yoga?

Yoga bedeutet: Joch/ anschirren/ verbinden/ vereinen.

Er ist nach Patanjali „jener Zustand, in dem alle mentalen Bewegungen zur Ruhe gekommen sind.“ (2)

Hatha-Yoga bezieht sich zentral auf den Gebrauch des Körpers als Instrument zur Erreichung der spirituellen Ziele, wie Erleuchtung, Reinigung und Einheit/Harmonie von Ich und Welt. Es geht ihm primär um die Körperposen, asanas. Ihre Wirkung erstreckt sich von der physischen bis hin zur geistigen Ebene. Deshalb wird der Hatha-Yoga auch sarvanga sadhana, d.h. ganzheitliches Üben genannt. Das asana bezeichnet die Ausrichtung des Körpers in verschiedenen Haltungen unter Beteiligung des eigenen und des universellen Selbst. Hier bildet sich das Zentrum aller yogischen Bemühungen ab, nämlich sich in Einklang zu setzen mit dem, was größer ist, mit dem, was Leben, Geist, Natur und Bewusst- sein trägt, jene Kraft, die vom kleinsten Staubkorn bis hoch zum Sternenzauber und weiter reicht. Der übende Mensch sucht die Einheit mit besagter Kraft in sich selbst und er weiß gleichzeitig, dass man sich nicht der Überzeugung hingeben soll, die Wahrheit erkannt zu haben, denn die Antwort scheint umfassender zu sein als das, was man zu erkennen in der Lage ist.

Wirft man einen Blick auf die Namen der in den Hatha-Yoga-Schriften aufgeführten asanas – sie umfassen Götter, Tiere, Pflanzen und Mineralien –, dann stellt man fest, dass in ihnen der Grundgedanke des Yoga zum Tragen kommt, dass der universelle Geist in allen Dingen existiert und deswegen allen Erscheinungsformen der gleiche Respekt zu zollen ist.

Fast jeder Yoganeuling erfährt so auch schon in den ersten Übungsstunden, dass eine bestimmte Art von Dehnung in irgendeinem beliebigen asana nicht nur eine Streckung da und dort bedeutet, sondern auch eine Verbindung in die Tiefe des Seins zu besitzen scheint.

Jedes asana stellt einen bestimmten Bereich unseres Lebens dar, entspricht somit als Abbild des Ganzen einem Aspekt von uns und eröffnet uns einen Weg nach innen zu größerer Bewusstheit.

Treten wir mit dem Körper in Kontakt, so treten wir mit dem Universum in Kontakt, wir lernen uns neu kennen, lernen Gewohntes anders wahrzunehmen, dringen ein in die tiefsten Schichten unseres Seins, unseres Erlebens bis hin zum Hören des inneren Klanges.

Wir erkennen, was ist, und desto präsenter wir werden, umso leichter fällt es uns loszulassen!

Wie ist dieser Prozess genau zu verstehen?

Du gehst in eine Haltung, schaffst die Basis, verwurzelst dich und dann wächst du immer weiter in die Länge.

Es gibt kein Ende in der Dehnung. Auch wird sie nicht vorzeitig von der Schwerkraft beendet. Du bist konzentriert auf einen einzigen Punkt ausgerichtet und verharrst an der Basis, berührst die Wurzel. Wir können so ewig weiter in die Haltung eintauchen und aus ihr wieder auftauchen, uns dabei in den unendlichen Bewusstseinsraum ausdehnen. Die Balance bleibt erhalten, rechte und linke Körperhälfte befinden sich im Gleichgewicht. Der äußere Ausdruck der Haltung bleibt bestehen und die innere Wirkung stabil. Alle Stehstellungen beziehen sich auf dieses Gefühl des permanenten Abhebens bei gleichzeitiger Verwurzelung. Beides ergibt in der Summe eine Erfahrung der Zeitlosigkeit, des puren Seins, der Verschmelzung von Innen und Außen.

Zwar mag es sein, dass wir noch nicht imstande sind, unser Bewusstsein auszudehnen, aber wir können z.B. unseren kleinen Finger strecken und von da aus analog schließlich auch das Bewusstsein. Und es geschieht eine bis dahin für unmöglich gehaltene Ausdehnung von Präsenz, von Gewahrsein.

Der katalanische Architekt Gaudi sagte über seine Kunst, die Architektur, dass sie aus einer kreativen Beziehung zwischen der Sinnlichkeit der Natur und der Nüchternheit der Geometrie bestünde. Dasselbe gilt auch für die Yogapraxis.

Das Bemühen um Symmetrie in den Haltungen ist exakt der gleiche Vorgang. Und so wie in der Architektur ist auch im Yoga das Konzept von Raum fundamental.

Eine Vase, ein Gebäude oder auch der Körper haben eins gemeinsam: sie besitzen zwei Räume, jenen, der sie umgibt, und jenen, der sie im Inneren ausmacht.

Am Beginn unsere asana-Praxis sorgen wir uns um das Aussehen der Haltung, blicken in den Spiegel und tasten die Umrisse des Körpers ab.

Später kümmern wir uns mehr und mehr um den inneren Raum. Gelingt er, gelingt auch die Pose. Jetzt erst beginnt sie ihren wahren Ausdruck zu erlangen, der Übende steht in einer tiefen Verbindung zu seinem Existenzkern, er und die Pose verschmelzen und Leichtigkeit, Mühelosigkeit, Anmut und Schönheit treten zutage.

Es ist nötig zu lernen, den inneren und den äußeren Körper im Yoga präzise auszurichten.

Ähnlich verhält es sich in der Architektur.

Die Statik muss stimmen, damit das Gebäude nicht einstürzt und mehr ist als eine bloße Anhäufung von Steinen. Eine korrekte „Ausrichtung“ kreiert einen inneren Raum ähnlich der Stabilität in einem professionell konstruierten Gebäude.

Der indischen Philosophie zufolge besteht die Kunst des Lebens aus zwei Komponenten: bhoga-kala, dem Genuss von Körper und Geist, also eher dem äußeren Gebäude zugehörend, und yoga- kala, dem Genuss von geistig-spirituellem Glück, also eher den inneren Raum betreffend.

„Wunschlos die Sinne, die Strömungen der Gedanken und Gefühle angehalten, das Herz voll Frieden, dies ist der aller- höchste Stand, Yoga wird er genannt.“

Katha-Upanisad (3)

Ein altes indisches Gleichnis spricht von zwei Vögeln, die an einem Baume sitzen: der eine frisst die süße Beere, der andere schaut gelassen zu; sie sind ein und derselbe Vogel unter zwei Aspekten. Yoga aber ist im Kern der Weg, ihre Einheit zu erfahren und die Weltverlorenheit des Vogels, den seine Natur zwingt, die süße Beere zu naschen, als eine Haltung an uns zu begreifen, die uns nicht berührt. So sind die beiden Vögel des alten Symbols im Laufe seiner Geschichte zu einem verschmolzen.

Zu einem – das ist Einheit, das ist Yoga, die Verbindung und Auflösung zweier Pole in eins.

Aber wie schwer ist es, gleichmütig zu sein, es zu bleiben, bewusst und innerlich klar, zu verzichten, sich existentiell zu lösen oder sich nicht mehr allzu sehr beeindrucken zu lassen von den verlockenden Dingen der sichtbaren Welt. Wie erlangen wir Klarheit, Leichtigkeit, Frieden und Gleichgewicht im Geist als auch im Inneren, warum üben wir eigentlich Yoga?

Um es zu schaffen, das Gewohnte neu betrachten zu können? Um uns innerlich zu wandeln? Um etwas zu erfahren über die Gründe des menschlichen Bewusst- seins, den Ursprung des Leidens, über die Quellen der schöpferischen Kräfte, die in uns schlummern?

Wie überhaupt das Leben leben?

Fragen über Fragen und alle scheinen sie irgendetwas mit dem menschlichen Herzen zu tun zu haben! Aber erinnern wir uns an Arjuna, den zweifelnden Helden der Bhagavadgita, an seine Worte, gerichtet an Gott Krishna:

„Du beschreibst mir den Yoga gleichsam als Leben in Einheit mit Brahman, dem Urgrund der Götter und Menschenwelt. Aber ich sehe nicht, wie dies von Dauer sein kann. Der Geist ist rastlos. Unruhevoll ist der Geist aller Menschen und durch die Fänge der Sinne zerrüttet, grob und verhärtet im starren Verlangen nach weltlichem Gut. Kann man ihn zähmen? Wahrlich, ich glaube, der Wind ist nicht wilder. Die Andacht, die du, Krishna, rühmst, und die durch Gleichmut wird erlangt, hat, meine ich, nimmer lang Bestand, da stets das Herz des Menschen schwankt, denn störrisch ist das Herz und wogt ohne End hin und her … man kann es, wie den Windeshauch, wohl dauernd bändigen nimmermehr.“ (4)

Aber auch wenn es so ist, wie Arjuna behauptet, so ist es dennoch möglich, dass das Herz sich öffnen kann, bereit für eine Begegnung mit etwas, was größer ist als wir und gleichzeitig Teil von uns als Kern unseres innersten Selbst.

Am Anfang erwähnte ich kurz, was die Inder uns sagen wollen, nämlich mittels asanas innezuhalten, nach innen zu schauen, sich dadurch zu lösen aus Prägungen und Beschränkungen, aus Enge und Frustration, das eigene Ich zu durchschauen, es zu überschreiten, das Spiel des Lebens zu begreifen.

In diesem Kontext symbolisiert das Menschenherz jenen Ort, an dem sich vielleicht das Wichtigste im Yoga erfahren lässt. Ich meine eine innere Haltung dem Leben, dem Üben von Yoga gegen- über, eine Art von freier Hingabe und Aufrichtigkeit, die sich nicht scheut, zu verzichten und bewusst zurückzutreten, aktiv loszulassen, nichts zu erwarten, die dankbar ist für jeden in Frieden gelebten/ geübten Augenblick.

Eine Haltung also, die Eigennutz und Selbstsucht abbaut, um Frieden, wirklichen Frieden im Herzen zu finden, standhaftes Gleichgewicht im Leben und Überleben, emotionale Festigkeit und einen klaren, gelassenen Geist.

Philosophie im Yoga ist bescheidene, stille und eine kreativ ergebene Praxis, eben BHAKTI, also Ausdruck jener er- wähnten Herzenshaltung, die sich im Leben, der sogenannten Welt da draußen ebenso wie auf der Matte zeigt und zu bewähren hat.

Asana, done from the head, makes one hard,
asana, done from the heart, makes one light.

BKS Iyengar

Wir sind zwar die Herren unseres Leibes, so hörten wir es am Anfang, aber was ist es eigentlich, das uns da gehorcht?

Der Körper, unser Körper, ist im Yoga eine Art meditatives Laboratorium, ein Mikrokosmos, in den wir voller Respekt eintreten. Er ist darüber hinaus ein Raum, der dazu dienen kann, das eigene Leben, seinen Sinn und Zweck kreativ zu erforschen.

So können wir im Yoga z.B. mit Hilfe der asanas behutsam in ihn eintauchen, ihn neu wahrnehmen, ihn kräftigen, vertiefen und verfeinern und seine in ihm schlummernden Potenziale zur Entfaltung bringen.

Wir können dadurch nicht nur mehr über uns und unsere Sehnsüchte erfahren, sondern über den eigenen Tellerrand schauen und etwas über das komplexe Wesen des Körpers oder besser unseres Leibes lernen, das fragile Zusammenspiel von Geist, Bewusstsein, Atmung und Seele, von Ich und Welt, Herz und Verstand.

Und vielleicht können wir eines Tages sogar begreifen und erkennen, was es heißt, wenn behauptet wird, dass es da etwas gäbe, einen göttlichen Kern in uns, einen Ort der Stille, an dem sich das Eigentliche unserer Existenz offenbart als Quelle tiefen Friedens.
Erkenne, oh Freund, das Wesen dieser Welt, damit sie dir kein Leid zufüge.

Chandogya-Upanisad (5)

Literatur:

1)         H. Zimmer: Yoga und Buddhismus, Ffm., 1977, S. 103

2)         Patanjali (übers. von B. Bäumer): Yogasutra, Die Wurzeln des Yoga, Bern München Wien, 1976, S. 21

3)         Die schönsten Upanischaden: Katha- Up., Freiburg i. Breisgau, S. 35

4)         Bhagavadgita (Hrsg. H. v. Glasenapp): Stuttgart 1955, VI. Gesang, S. 51

5)         Die schönsten Upanischaden: Chan- dogya-Up., Freiburg i. Breisgau, S. 103