Übungspraxis & Anatomie
Tadasana (Bergstellung)
Von Ernst Adams
Ursprünglich erschienen in der YOGA aktuell Nr. 12, Feb/Mär 2002
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Stehe fest mit den Füßen auf dem Boden.
Strecke die Wirbelsäule hoch. Hebe den Brustkorb und schaue geradeaus.
Mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen, heißt, die Gegebenheiten des Lebens zu sehen und anzunehmen und sich nicht in Träumereien zu verirren.
Auf eigenen Füßen zu stehen, heißt, für sich selbst zu sorgen und für sich die Verantwortung zu übernehmen.
Standfest ist jemand, der auch in schwierigen Zeiten seine Aufgabe erfüllt und seinen Grundsätzen treu bleibt.
Einen offenen und ehrlichen Menschen bezeichnet man als aufrecht.
Für etwas geradestehen heißt, die Folgen auf sich zu nehmen.
Unser Gehirn macht etwas mit dem, was wir sehen. Wir analysieren es, werten es aus, versehen es mit Eigenschaften. Selbst geometrische Formen haben für uns einen jeweils eigenen Charakter. Ein Kreis und ein Dreieck sind beide nur aus einer Linie gemacht und sind doch ganz verschieden in ihrem Ausdruck.
Wenn ich einen Menschen sehe, sehe ich viel mehr als nur sein Äußeres. Die Haltung eines anderen Menschen erzeugt bei mir einen Eindruck. Ich habe sofort eine Ahnung, ein Gefühl, was das für ein Mensch ist. Es mag nicht genau zutreffen, es mag von meinem eigenen Zustand beeinflusst sein, aber das, was ich sehe, ist nie nur die Form. Es ist immer auch Ausdruck.
Die oben aufgeführten sprachlichen Ausdrücke deuten darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der körperlichen Haltung und der geistigen Einstellung eines Menschen. Das innere Wesen zeigt sich im Äußeren. Und das Innere kann nicht so bleiben, wie es ist, wenn das Äußere sich ändert.
Ein Mensch in niedergeschlagener Stimmung, der sich aufrichtet und mit offenen, klaren Augen geradeaus schaut, macht nicht nur einen anderen äußeren Eindruck. Sein Gemütszustand ist dadurch noch nicht unmittelbar geändert, aber seine neue äußere Haltung übt eine Wirkung darauf aus. Vielleicht ermöglicht ihm die Haltungsänderung, dem ins Auge zu schauen, was ihn bedrückt. Er kann es annehmen, anstatt sich davon niederdrücken zu lassen.
Auch jede Yogaübung (Asana) hat einen besonderen Charakter, einen Ausdruck. Das Gefühl, das ein Asana vermittelt, ist sicher nicht bei jedem das gleiche. Manche Asanas erwecken jedoch bei den meisten ähnliche Empfindungen. Der Handstand ist kraftvoll, herausfordernd, belebend. Eine Vorwärtsbeuge ist eher beruhigend, nach innen führend.
Den Ausdruck eines Asanas für sich zu erfassen oder sogar in Worten auszudrücken ist schwierig. Man kann das Wesen eines Asanas wahrnehmen, aber kaum darüber denken oder sprechen.
Am Anfang des Übens steht sowieso erst mal das Tun. Wir nehmen eine körperliche Haltung ein und befolgen die gegebenen Anweisungen. Dazu benötigen wir unseren Verstand. Er ist damit beschäftigt, die Ausführung der Übung zu überwachen und den leicht abschweifenden Geist zurückzubringen zu dem, was wir gerade machen und fühlen.
Im Lauf der Zeit, wenn eine Bewegung oder Haltung eingeübt ist, wird sie mehr und mehr von unbewussten Teilen unseres Gehirns gesteuert, und die Aufmerksamkeit wird wieder frei. Die körperlichen Empfindungen werden in immer größerem Maße bewusst. Mit der Zeit verfeinert sich die Wahrnehmung, und es erschließen sich immer neue innere Bereiche. Für den, der dazu bereit ist, bieten die Asanas und später auch Pranayama (Atemübungen) eine Möglichkeit, die eigene Tiefe und das Unbewusste zu ergründen. Eventuell begegnen einem dabei auch unangenehme Gefühle: Angst, Frustration, Widerwille, Trauer. Diese ruhig anzuschauen, ohne sie abzuwehren, hilft dabei, sie schließlich anzunehmen und aufzulösen.
Zum Glücklichwerden ist es vielleicht nicht erforderlich, die Herkunft der schwierigen Gefühle zu verstehen. Vielleicht ist es nicht einmal notwendig, dass überhaupt klare Gefühle beim Üben auftauchen. Es reicht, aufmerksam innerlich zu schauen, fühlend wahrzunehmen und dabei still zu bleiben.
Von den Füßen zu den Leisten
In den meisten Asanas wird es sofort offenkundig, wenn man unaufmerksam oder nachlässig ist. Die äußere Form geht deutlich verloren. Tadasana hat dagegen eine äußerlich recht simple Form, dem gewohnten Stehen nahe, und die Abweichungen von der „guten Haltung“ fallen nicht so leicht auf. Sie sind nicht so leicht zu sehen und werden nicht so leicht bewusst. Tadasana zu üben, ist also eine größere Herausforderung an die Aufmerksamkeit.
Beginnen wir mit den Füßen. Wesentliche Punkte sind hier
- die Zehen zu spreizen
- das Fußgewölbe zu heben
- den großen Fußballen aufzudrücken
- fest auf den Fersen zu stehen.
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Lasse die Füße sich vorne und hinten berühren.
Spreize und strecke die Zehen.
Halte etwas mehr Gewicht auf den Fersen als vorne auf den Fußballen.
Es hat bei mir etwa zwei Jahre gedauert, bis ich meine Zehen wieder so spreizen konnte, dass die großen Zehen sich berührten und zwischen allen anderen Zehen ein freier Zwischenraum war. Jeden Tag hinschauen, versuchen, anfangs verzweifelt, später hoffnungsvoll, schließlich zufrieden. Eine Zeit lang habe ich nachts mit Zehenspreizern geschlafen, die es heute in Sanitätshäusern zu kaufen gibt.
Das Spreizen und Strecken der Zehen aktiviert auch die Fußmuskulatur, welche für das Heben des Fußgewölbes zuständig ist. Senk-, Spreiz-, Knick- und Plattfüße sind nur zum Teil unabänderliches Schicksal. Wer die Mühe auf sich nimmt, die Muskulatur aufbaut und zu gebrauchen lernt, kann vieles wieder reparieren.
Eine inkorrekte Fußhaltung verursacht in der Regel eine inkorrekte Haltung und damit eine von der Natur abweichende einseitige Belastung der Knie, der Hüften, gegebenenfalls auch der Wirbelsäule. Ein Senkfuß hat oft ein gesunkenes Brustbein zur Folge mit allen daraus resultierenden nachteiligen Folgen für die Atmung, das Herz und das Befinden der inneren Organe.
Anfangs können viele Menschen weder die Zehen spreizen noch das Fußgewölbe anheben. Um letzteres zu lernen, hilft es,
- die Beine ein wenig nach außen zu drehen und dabei den äußeren Rand der Füße etwas mehr auf den Boden zu drücken.
Nachdem du ein Gefühl für das Heben des Fußgewölbes hast, lass das Auswärtsdrehen der Beine wieder sein. Wenn du jedoch dazu tendierst, überwiegend auf dem inneren Rand der Füße dein Gewicht zu tragen, dann musst du dir angewöhnen, in der Regel die Außenkante, besonders den äußeren Rand der Fersen mehr aufzudrücken. Wenn die gröbste Fehlhaltung beseitigt ist und du mit deinen Füßen schon sehr vertraut bist, reicht dir vielleicht folgende Anweisung:
- Bewege die Haut oben auf dem Fußrücken zum äußeren Fußrand hin.
Was beim Heben des Fußgewölbes leicht geschieht, ist, dass der große Fußballen (das Grundgelenk der großen Zehe) sich auch hebt oder jedenfalls nicht mehr aufgedrückt wird. Dadurch verliert man an Stabilität. Außerdem führt das Aufdrücken des Fußballens in einem geübten Körper zu einem deutlicheren Anheben des Brustbeins. Du musst also lernen, die Aktivität im Fuß zu differenzieren und diese beiden erstmal entgegengesetzten Kräfte auszuüben: Fußgewölbe hoch, großer Fußballen runter.
Achte auf die Stellung deiner Knie. Halte sie geradeaus gerichtet und strecke sie, indem du die Kniescheiben hochziehst. Dies ist wahrscheinlich die am meisten verwendete Anweisung im Iyengar-Yoga-Unterricht. Es geht dabei garnicht darum, die Kniescheibe nach oben zu bewegen, sondern um das Anspannen der vorderen Oberschenkelmuskeln (Quadrizeps), was aber diese Bewegung zur Folge hat. Ich lasse Anfänger dies oft im Sitzen mit ausgestreckten Beinen üben. Man kann dann mit den Fingern erfühlen, wie beim Anspannen tatsächlich die Kniescheibe ein Stück Richtung Becken bewegt wird.
Mit dieser Aktivität solltest du dich sehr vertraut machen und sie zur Gewohnheit beim Üben besonders der stehenden Übungen machen. Selbst für manche kräftigen Männer ist es eine Herausforderung, die Knie zu strecken und die Kniescheibe länger als eine halbe Minute hochzuziehen. Entweder die Kraft lässt nach oder die Aufmerksamkeit. Das Wesentliche an dieser Anspannung ist, dass sie das Knie stabilisiert und es so vor Verletzung schützt. Wenn die Muskeln nicht arbeiten, geht die Belastung auf die Bänder, und das Knie „gerät aus den Fugen“.
Anfänger verwechseln leicht das Strecken der Knie mit dem Durchdrücken. Besonders wenn du eine Tendenz zur Überdehnung der Beinrückseiten hast, musst du lernen, das eine vom anderen zu unterscheiden. Durchdrücken ist eine Bewegung nach hinten, Hochziehen eine nach oben.
- Beim Anziehen der Kniescheiben dehne die Vorderseiten der Oberschenkel nach oben. Setze diese Dehnung über die Leisten hinweg fort.
Beim geraden Stehen steht der Oberschenkelknochen senkrecht auf dem Schienbein. Das Gewicht des Körpers sollte nicht nur auf dem rechten und linken Knie, sondern auch an jedem Knie gleichmäßig verteilt sein.
- Stelle dir die Kontaktfläche zwischen Oberschenkel und Unterschenkel als eine kreisförmige Fläche vor. Stehe so, dass der Druck auf dieser Fläche gleichmäßig verteilt ist.
Um beim Strecken des gesamten Körpers die Beine mit dem Oberkörper als dynamisch verbunden zu empfinden, hilft es, die Oberschenkel am Ansatz leicht nach innen zu drehen. Dies ist zum großen Teil nur ein Anspannen von Muskeln und soll nicht zu einem Einwärtsdrehen der Knie führen.
- Drücke die Innenseiten der Oberschenkel nach hinten und weite die Rückseite der Beine von innen nach außen.
Letztere Anweisung braucht als Gegenkraft das nachfolgend beschriebene Bewegen des Steißbeins nach vorne und das Aufwärtsdehnen der Leisten.
Von den Leisten zum Zwerchfell
Der Quadrizeps verbindet die Beinknochen an der Vorderseite mit dem Becken. Er reicht vom oberen Ende des Schienbeins bis knapp unterhalb des vorderen Hüftknochens (die genaue Bezeichnung dieses nach vorne leicht hervorstehenden Teils beider Beckenschaufeln ist „vorderer oberer Darmbeinstachel“). Ist der Quadrizeps nicht gut dehnbar bzw. chronisch zusammengezogen, ist eventuell deshalb das Becken nach vorne gekippt, was dann bei aufrechtem Oberkörper zu einem Hohlkreuz führt. Für die meisten Menschen ist es in Tadasana sinnvoll, dem entgegenzuwirken und sowohl die Leisten nach oben zu dehnen als auch die vorderen Hüftknochen ein wenig anzuheben.
In die gleiche Richtung führt es auch, das Steißbein nach vorne zu bringen. Dies ist das untere Ende der Wirbelsäule und in der Regel nach innen gebogen. Wenn du mit diesem Körperteil noch nicht so vertraut bist, erkunde ihn und seine Form mit den Fingern. Unterscheide es vom Kreuzbein. Das ist der darüberliegende Teil der Wirbelsäule. Es bildet die Mitte der Beckenrückseite und hat die Form eines auf der Spitze stehenden Dreiecks.
- Bewege das Steißbein nach vorne und nach oben.
Beim Versuch, das Steißbein nach oben zu bringen, vermeide es, den Bauch einzuziehen und das Becken nach hinten zu kippen. Dehne die Vorderseite des Körpers von den Leisten über den Bauch bis zum Brustbein nach oben. Auch innerlich habe ein ansteigendes Gefühl und nimm Gewicht weg vom Beckenboden.
Vom Zwerchfell zum Scheitelpunkt
Beim Heben des Brustbeins und Öffnen des Brustkorbs lasse die Rippenbögen nicht nach vorne gegen die Haut drücken. Eher weite die unteren Rippen zur Seite.
- Bewege das Brustbein so, als wolltest du besonders die obere Hälfte anheben und ohne es nach vorne zu drücken.
- Hebe auch die Schlüsselbeine, und mache den Schultergürtel vorne breit.
Bringe die Schlüsselbeine höher als die Schulterblätter und strecke sie vom Brustbein her zur Seite. Weite dabei auch die Rippen vorne am Brustkorb von der Mitte nach außen. Atme.
- Bringe die Rippen an den Achselhöhlen leicht nach vorne und hebe sie.
Halte den Teil der Achselhöhlen, der zu den Armen gehört, dabei etwas zurück.
Nimm die äußeren Schultern zurück, ohne jedoch die Schulterblätter zusammenzuziehen. Ziehe diese etwas nach unten, und drücke sie an den Rücken an. Nimm die folgende Anweisung nicht wörtlich, sondern fühle, was es bewirkt, wenn du sie auszuführen versuchst:
- Bringe die unteren Spitzen der Schulterblätter nach innen und oben zu den Schlüsselbeinen.
Die meisten Menschen halten den Kopf leicht nach hinten geneigt, das Kinn also ein wenig zu weit nach vorne und zu hoch. Du musst herausfinden, wie weit das auch für dich zutrifft.
Vielleicht hilft dir die Vorstellung, dass am höchsten Punkt deines Kopfes ein Faden befestigt ist, der dich nach oben zieht. Stehe dabei gleichzeitig fest auf dem Boden. Strecke die Beine nach unten, den Oberkörper nach oben.
- Schaue mit weichen Augen genau waagerecht geradeaus.
Die Weichheit der Augen hängt auch von deiner Haltung ab. Fühle deine Augen während du gerade stehst. Dann neige dich langsam nach vorne, ohne dich in der Hüfte zu beugen, und spüre die Veränderung in deinen Augen.
Beim ruhigen, geraden Stehen sinken die Augen eher zurück und ruhen in den Augenhöhlen. Fühle, wie angenehm es ist, ruhige, weiche Augen zu haben.
Gerade stehen
Wenn du Tadasana übst, bringst du deinen Körper in eine gute, gestreckte Haltung. Neben der Beachtung der oben aufgeführten Punkte ist es natürlich auch wichtig, dass du gerade, d. h. senkrecht stehst.
Um nicht nach links oder rechts abzuweichen, verteile dein Gewicht genau gleich auf beide Füße. Drücke sie auf den Boden und aktiviere dabei auch die Beinmuskeln, so dass du auf kraftvollen sicheren Beinen stehst. Strecke deine linke und rechte Körperseite gleichmäßig hoch – auch am Oberkörper.
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Nimm die Schultern etwas zurück.
Bringe das Steißbein nach vorne und drücke die Oberschenkelknochen zurück.
Öffne die Rückseite der Beine.
Um beurteilen zu können, ob du auch von der Seite gesehen gerade stehst, ertaste den außen an der Hüfte fühlbaren „großen Rollhügel“. Das ist das obere Ende des geraden Teils des Oberschenkelknochens, von dem aus der Oberschenkelhals zum Hüftgelenk hin nach innen führt. Wenn du in Tadasana stehst, schaue ohne deine Beinhaltung zu verändern seitlich an den Beinen nach unten. Fast alle Menschen stehen leicht nach vorne geneigt, und der Rollhügel befindet sich dann nicht senkrecht über dem äußeren Fußknöchel (wo er hingehört), sondern über der Fußmitte oder sogar über den Zehen.
Eine solche schiefe Haltung bringt gravierende Verspannungen mit sich, und ihre Korrektur kann eine wahre Erlösung sein. Das ist deutlich z. B. an den Waden zu spüren. Dazu neige dich im Stehen so weit wie möglich gerade nach vorne. Ohne die Fersen zu heben, bringe dein Gewicht auf den vorderen Teil der Füße. Nach einiger Zeit komme wieder zu einer senkrechten Haltung, so dass das Gewicht wieder viel mehr auf den Fersen ruht, und spüre, wie sich das in den Waden anfühlt.
Tadasana achtsam zu üben, wird dich verändern. Die gerade aufrechte Haltung drückt deine innere Größe aus. In der maßvollen stolzen Aufrichtung des Oberkörpers zeigt sich deine Würde und deine Bescheidenheit.
Den Blick geradeaus gerichtet zu halten, bringt dich in die Gegenwart. Wenn deine Augen weich sind, bleibst du im Mitfühlen.
Die Streckung der Wirbelsäule führt zur Ausdehnung und zur Freiheit.
Kraftvoll mit den Beinen zu stehen, gibt dir ein Gefühl von Stabilität. Wenn dabei das Innere des Bauches weich ist und der Atem frei fließt, kannst du gleichzeitig Festigkeit und Weichheit spüren.
Anmerkung
Der Sanskrit-Name dieser Übung setzt sich zusammen aus „tada“ (Berg) und „asana“ (Haltung). Die Betonung liegt auf dem zweiten „a“.