Übungspraxis & Anatomie
Interview mit Abhijata Iyengar
Von Nici Tannert
Geführt am 28.04.2024 während der Iyengar Yoga Convention in Bregenz
Erstveröffentlichung: YogaWorld Journal 05/2024
Erste vollständige Veröffentlichung: Abhyasa Sept 2024
Du hast heute auf der Convention gesagt: „Wenn wir immer auf die gleiche Weise üben, wird der Geist dumpf.“ Lass uns also über das Für und Wider von Gewohnheiten auf der Matte sprechen. Hast du denn selbst tägliche Routinen in deiner Übungspraxis?
Nein. Mal angenommen, an einem bestimmten Tag läuft irgendetwas nicht ganz rund, dann leitet mich das natürlich durch das Üben. Aber wenn sich nichts falsch anfühlt, dann fange ich einfach an. Da ist so etwas wie eine innere Orientierung, die mir sagt, wie es weitergehen soll, was ich als nächstes übe.
Aber gibt es einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit für deine Yogapraxis?
Ich praktiziere am Institut. Ich komme fast jeden Tag dorthin und bin mit diesem Ort verbunden. Und der Zeitpunkt ist auch ziemlich festgelegt, weil die Kinder zur Schule müssen und ich selbst meine Klassen am Institut gebe. In diesem Sinne gibt es also einen externen Einfluss in Bezug auf die Zeit.
Fällt es dir morgens oder abends leichter zu üben?
Ganz klar morgens.
Gibt es denn bestimmte Yogahaltungen, die bei deiner Asanapraxis täglich dazu gehören? Sogenannte „daily poses“?
Nein. Umkehrhaltungen wie Shirsasana und Sarvangasana sind, wie Guruji gesagt hat, ein Muss und die tauchen auch ganz von selbst jeden Tag in meinem Programm auf. Aber ansonsten, nein.
Und wie war es früher, als du angefangen hast, dich ernsthaft für Yoga und die Asanapraxis zu interessieren?
Als ich nach Pune zurückzog, um meinen College-Abschluss zu machen, habe ich damit begonnen, an den Kursen im Institut teilzunehmen. Das war so im Alter zwischen 17 und 22. Da ging es jedoch nur um die Teilnahme am Unterricht. Ich habe zu dieser Zeit noch nicht selbstständig geübt. Aber danach, nachdem ich meinen Master abgeschlossen hatte (in Zoologie und Bioinformatik), begann ich auch eigenständig zu üben. Also nicht mehr nur innerhalb einer Klasse und mit einem Lehrer, der dir vorgibt, was zu tun ist.
Wie hast du die Disziplin dafür aufgebracht?
Glücklicherweise hatte ich meinen Großvater, der zur gleichen Zeit wie ich in derselben Halle übte, sodass ich keine große Wahl hatte. Er hat mir auch gezeigt, was zu tun war und wie es zu tun war. Er hat es mir quasi diktiert. (lacht)
Hast du eine Lieblingshaltung?
Nein.
Welches Asana oder welche Asana-Gruppe ist für dich die größte Herausforderung?
In jeder Kategorie gibt es bestimmte Asanas, die eine Herausforderung darstellen können. Aber dann entfaltet sich meine Übungspraxis auf eine Art und Weise, dass ich mich den schwierigeren Haltungen Schritt für Schritt annähere. Sie werden also nicht ausgelassen.
Zwingst du dich dazu, auch herausfordernde Asanas zu üben?
Es hängt davon ab, was du mit zwingen meinst.
Ich habe dich mehr als einmal sagen hören, dass es Asanas gibt, die wir mögen und die wir deshalb lieber und öfter üben, und dass es Asanas gibt, die wir nicht mögen und die wir daher versuchen zu vermeiden. Ich vermute also, dass du diese Erfahrung auch gemacht hast. Wie bringst du dich dazu, diese Haltungen trotzdem zu üben?
Weißt du, inzwischen ist ein Zeitpunkt gekommen, an dem mir gezeigt wurde, dass es der Körper ist, der die Bedingungen diktiert. Und ich kann das jetzt auseinander halten: Ob es der Verstand ist, der sagt, was zu tun ist. Oder ist es mein Ego? Das kann ich inzwischen unterscheiden. Und wenn mir das bewusst ist, wird auch die Übungspraxis klarer:
Wenn es etwas gibt, das ich nicht tun möchte, weiß ich jetzt, dass ich es vermeide, weil meine Hüfte schmerzt und ich deshalb Angst davor habe. Oder weil ich mir den Knöchel gebrochen oder irgendeinen anderen Teil von mir verletzt habe und mir nicht weiter wehtun möchte. Da ich also die Ursache verstehe, muss ich mich nicht dazu zwingen, dorthin zu gelangen.
Mit dem Geist oder auch mit dem Atem ist es wie mit dem eigenen Kind: In dem Moment, in dem ich zum Kind sehe, benimmt es sich plötzlich. Wenn das Kind weiß, dass es beobachtet wird, ist es ganz brav. Auf die gleiche Art und Weise fängt auch unser Geist an, sich zu benehmen, sobald er weiß, dass ich ihn betrachte. Sobald mir also bewusst wird, warum ich eine Haltung in meiner Übungspraxis vermeide, ändert sich etwas und ich kann den nächsten Schritt gehen.
Nicht jeder ist bereits so reflektiert beim Üben. Manchmal üben wir zu hart, manchmal kommen wir in die besagte Vermeidungshaltung und üben nur die Asanas, die wir mögen. Ist das dann „bhoga“ (Sanskritwort für Genuss)? Ist das noch Yoga?
Patanjali hat es deutlich gemacht. Er spricht von fünf Leiden: avidya (Unwissenheit), asmita (Egoismus), raga (Begierde), dvesha (Hass) und abhinivesha (Angst vor dem Tod). Also sagt er: sukha-anushayi ragah (Lust führt zu Begierde und emotionalem Anhaften) und duhkha-anushayi dveshah (Unglücklichsein führt zu Hass).
Nehmen wir das Beispiel Trikonasana und nehmen an, du machst gerne Trikonasana. Du möchtest nichts anderes mehr machen als Trikonasana. So entwickelst du eine Anhaftung an Trikonasana. Jetzt stell dir aber vor, du sollst außerdem die Haltung Parshvakonasana üben. Dann stört diese neue Haltung deine Bindung an Trikonasana, denn dein Parshvakonasana sagt: Jetzt komme ich!
So bildet sich bei dir ein Groll auf Parshvakonasana. In dem Moment, in dem man also eine Vorliebe für etwas entwickelt, entsteht bereits der Keim für eine Abneigung gegenüber dem, das die Vorliebe einschränken könnte. Auf diese Weise gerätst du in einen Kreislauf:
Wenn du immer nur das tust, was dir Spaß macht, wirst du auch immer das meiden, was den Spaß beenden könnte. Aber das Leben ist nicht nur Zuckerschlecken. Du wirst nicht immer das bekommen, was dir gefällt. In diesem Sinne ist es definitiv bhoga, sich immer darin zu üben, nur das zu tun, was einem gefällt.
Aber brauchen wir nicht auch ein bisschen bhoga beim Yoga?
Wir brauchen ein wenig … Sobald du geboren bist, bist du den Freuden und Schmerzen des Lebens ausgesetzt. Du bist ein Produkt dessen, was du in der Vergangenheit getan hast. Ich glaube an diese Karma-Theorie. Was du in der Vergangenheit getan hast, wird deine Gegenwart beeinflussen. Was du in der Gegenwart tust, wird deine Zukunft beeinflussen. Und selbst für diejenigen, die nicht an die Karma-Theorie glauben: Was du säst, wirst du auch ernten. Das ist ein Sprichwort, das jeder akzeptiert. Bhoga ist ein Teil des Lebens, es ist das Vergnügen, das du verdient hast, weil du mit bestimmten guten Taten aus der Vergangenheit gesegnet bist, die du getan hast. Deshalb kannst du jetzt auch Freude erfahren. Es ist also nichts Falsches daran, sich zu vergnügen. Aber davon abhängig zu sein und daher immer frustriert und niedergeschlagen zu sein, wenn etwas keine Freude bereitet, das ist ein Problem.
Sieh dir nur die Heiligen an. Die Heiligen in deiner Religion, die Heiligen in meiner Religion: Auch wenn ein Problem auf sie zukam, gaben sie trotzdem nicht ihre Liebe zu Gott auf. Sie haben ihren edlen Weg nicht verlassen. Wohingegen wir in unserer Vorstellung von Freude den Weg verlassen, sobald es keinen Spaß mehr macht. Das ist ein Problem. Aber wenn du auf deinem Weg gefestigt bist, kann dich das Vergnügen nicht in die Irre führen. Das ist dann ein sicheres Vergnügen.
Findest du an Tagen wie diesen Zeit zum Üben? Hast du heute zum Beispiel geübt, wenn eine große Convention stattfindet und du den ganzen Tag unterrichtest?
Am Morgen, normalerweise. Aber mir ging es in den letzten Tagen nicht so gut. Ich erhole mich gerade davon, also bin ich besser vorsichtig.
Was hilft dir, auf die Matte zu kommen? Gibt es etwas, das es dir leichter macht, die Disziplin aufzubringen, regelmäßig zu üben?
Nein, ich gehe auf die Matte, weil ich es liebe, auf die Matte zu gehen. Ich hab damit keine Probleme.
Und wenn es einen Tag gibt, an dem du nicht üben kannst, fühlst du dich deswegen schlecht?
Nein…
Das ist ein Thema, das mich beschäftigt. Ich versuche, jeden Tag zu üben, aber es funktioniert eben nicht immer, weil so viele andere Dinge im Leben dazwischen kommen. Dann fühle ich mich unwohl, weil ich weiß, dass mir die Asanapraxis gut tun würde – besonders an stressigen Tagen – und weil ich nicht nachlässig werden möchte. Das geht sicher nicht nur mir so…
Diese Schuldgefühle sind nicht unbedingt eine gute Sache, denn dann ist es eine Sucht, nicht wahr? Das müssen wir überprüfen. Wenn man süchtig nach dem Üben ist, dann ist das auch kein Yoga. Wenn ich beispielsweise an einem bestimmten Tag nicht praktizieren kann, weil es meinem Kind nicht gut geht, und ich mich deswegen schlecht fühle, dann bin ich eine egoistische Mutter. Wenn mein Kind mich als Mutter braucht, muss ich bei ihm sein. Es hängt also davon ab, warum du deine Praxis vernachlässigst.
Auch wenn du auf dein Training verzichtest, weil du lieber mit deinen Freunden feiern möchtest, ist das kein Problem. Wir sollten uns deshalb nicht vorwerfen, nicht aufrichtig und ernsthaft genug zu üben. Solange wir uns darüber im Klaren sind, wer wir sind und was wir sind, ist beides in Ordnung.
Schön zu hören, wirklich. – Trotzdem möchte ich natürlich regelmäßig üben. Hilft es mir, meine Übungen zu einer festen Gewohnheit in meinem Tagesablauf zu machen, um eine regelmäßige Yogapraxis zu etablieren?
Am Anfang ja. Am Anfang ist es eine Disziplin. Am Anfang muss es nach und nach aufgebaut werden. Aber es sollte nicht nur eine Gewohnheit bleiben. Das ist wie in einer Beziehung: Du bist verliebt und tust alles für diesen geliebten Menschen und mit ihm. Und dann stell dir vor, es wird zur Gewohnheit und das Gefühl der Liebe geht verloren. Das ist nicht gut.
Ist denn die Gewohnheit überhaupt nötig, um die Disziplin zum Üben aufzubringen? Wenn es sich um eine emotionale Handlung handelt, muss die Disziplin nicht durchgesetzt werden. Yoga kann am Anfang natürlich eine Disziplin aus externer Quelle sein. Aber dann, sagte Guruji, muss die Disziplin von innen kommen. Wenn die Disziplin von innen kommt, ist das ein emotionaler Akt. Selbst nach 20, 30 und 40 Jahren in einer Beziehung mit derselben Person hat es nichts mit Disziplin zu tun, wenn man noch zusammen ist – sofern man dieser Person emotional verbunden ist. Es ist dann keine Gewohnheit, denn die Beziehung ist immer wieder neu, weil die emotionale Verbundenheit frisch geblieben ist. So ist es auch mit Yoga. Solange die Emotion lebendig ist, kann sie keine Gewohnheit sein.
War es das, was dein Großvater meinte, als er sagte, dass Gewohnheit eine Krankheit ist?
Im beschriebenen Kontext würde er genau das meinen.
Du hast diese Aussage von ihm vor ein paar Jahren in einer Rede aufgegriffen, um ihn zu ehren, und dabei die Brücke von der ‚Gewohnheit‘ zur ‚Gewöhnung‘ geschlagen. Das bedeutet: die Wirkung lässt nach, wenn man sich an etwas gewöhnt. Auch heute hast du uns von der Bühne ermahnt: „Ihr könnt hundertmal Trikonasana üben, ohne dass es sich weiterentwickelt“, wenn wir nur mechanisch üben.
Es geht nicht nur um Quantität, sondern vor allem um Qualität.
Auch weil „mein heutiges Trikonasana nicht das Trikonasana von gestern ist und nicht dasselbe sein wird wie morgen“, wie du deinen Großvater zitiert hast?
Es gibt ein Sprichwort: „Man kann nicht ein zweites Mal in denselben Fluss steigen.“ Wenn du in einen Fluss schreitest, fließt der Fluss. Du kannst nie wieder in denselben Fluss steigen, weil das Wasser weitergeflossen ist. Genauso ist das Leben ein Fluss. Es passieren so viele Dinge, die dich beeinflussen und dich weiterentwickeln. In der Physiologie des Körpers passieren jede Minute so viele Veränderungen. In deiner Psyche passieren so viele Dinge. Was dir Trikonasana bedeutet hat, als du vor zehn Jahren angefangen hast, und was Trikonasana heute für dich bedeutet, ist ganz anders. Da sich die Bedeutung völlig geändert hat, wird das, was du heute in deinem Trikonasana tust, völlig anders sein.
Diese Frische im Leben hat Guruji gemeint mit „im gegenwärtigen Moment sein“. Wenn wir Dinge mechanisch erledigen, ist es jeden Tag das Gleiche. Wenn du zum Beispiel die Aufgabe hast, diesen Raum zu reinigen, dann ist das eine mechanische Tätigkeit. Jedes Mal, wenn du ihn reinigst, ist es eine mechanisch ausgeführte Handlung, eine Gewohnheit. Aber nehmen wir an, du putzt dieses Zimmer, weil ein geliebter Mensch vorbeikommen wird. Oder wenn du das Bett für dein Baby herrichtest, ist das kein mechanischer Akt. Es herrscht darin eine Frische. Wenn ich jetzt wieder auf das Beispiel einer Beziehung zurückkomme, dann deshalb, weil es ein emotionaler Akt ist. So wie Liebe nicht gelehrt werden kann, sagte Guruji, kann auch die Meditation nicht gelehrt werden. Yoga in seiner Gesamtheit ist Meditation. Es ist ein emotionaler Akt. Und wenn es ein emotionaler Akt ist, kann es nicht jedes Mal dasselbe sein. Wann immer eine Emotion im Spiel ist, kann es sich nicht um eine mechanisch ausgeführte Handlung handeln. Und wenn Guruji sagte: „Mein Trikonasana von gestern ist anders als heute“, ist das ein emotionaler Teil davon.
Aber selbst wenn man sich die Physiologie anschaut: Wie wir heute in der Klasse gesehen haben, die ich für euch gegeben habe, ist dein Adho Mukha Shvanasana anders, wenn du es nach Anantasana übst. Oder wenn du am Vorabend Salat gegessen hast. Dann wird dein Verdauungssystem am nächsten Tag anders auf dein Trikonasana oder Parivrtta Trikonasana reagieren. Wenn du am Vorabend ein fettreiches Essen gegessen hast, wird sich dein Trikonasana oder Parivrtta Trikonasana wieder anders anfühlen, denn dein Verdauungssystem hat anders gearbeitet. Alles hat einen Einfluss, und die Variablen im Leben sind so zahlreich, dass jeder Moment im Leben anders ist.
Und du meinst, wenn wir mechanisch üben, also nicht bei der Sache sind, nicht emotional verbunden, dann entwickeln wir uns nicht wirklich weiter?
Genau. Du entwickelst dich nicht weiter. Denn es ist dann immer das Gleiche, du steckst im selben Trott fest, es gibt kein Wachstum, es ist Stagnation. Und Guruji hat oft gesagt, Stagnation ist der Tod.
Ich habe es in deinen Klassen schon manches Mal erlebt, dass du jemanden dabei erwischt hast, der mechanisch geübt hat. Der seine Haltung im gewohnten Stil ausgeführt hat, obwohl du gerade einen neuen Fokus in das Asana gebracht hast. Was findest du schwieriger: einen völlig neuen Schüler anzuleiten oder jemanden, der in seinen Gewohnheiten gefangen ist?
(lacht) Für mich als Lehrerin ist es derjenige, der in dieser Gewohnheit gefangen ist. Mit einem neuen Schüler ist es einfach. Es ist, als ob man einen Setzling beschneidet, damit er auf eine bestimmte Weise wächst. Aber wenn es einmal ein Baum ist, ist es schwer, ihn zu formen.
Ist es eine Frage des Alters?
Das Alter ist ein Aspekt. Und die Konditionierung. Die menschliche Konditionierung ist der Hauptaspekt. Wir sind alle Opfer von Konditionierung. Wir sind darauf konditioniert zu glauben, dass dies der richtige Weg ist. Wir sind darauf konditioniert zu denken, dass dies der falsche Weg ist. Das stärkt unser Glaubenssystem in einem solchen Ausmaß, dass eine andere Sichtweise gar nicht erst akzeptiert wird. Wenn man also dieselbe Methode wieder und wieder mechanisch anwendet, wie du es erwähnt hast, handelt es sich um eine konditionierte Vorgehensweise. Sie basiert auf einer Erinnerung, die aus der Vergangenheit stammt. Sie ist also nicht im gegenwärtigen Lebensmoment verwurzelt.
Wie können wir in unserer Yogapraxis aus dem Gewohnheitsmodus herauskommen?
Durch das Spüren. Wenn du den Kopfstand übst und einfach nur das gewohnte Bein zuerst hochschwingst, fünf Minuten in der Haltung ausharrst und wieder runterkommst, wenn die Zeit um ist, dann hast du mechanisch geübt. Aber es ist ganz anders, wenn du dabei beobachtest, was im Körper passiert: Wenn ich das rechte Bein zuerst hochschwinge, erzeuge ich dann ein Ungleichgewicht auf meinen Schultern? Findet eine Gewichtsverlagerung in meinen Armen statt? Werden beide Seiten meines Körpers gleichermaßen angehoben? Reagiert mein rechtes Schulterblatt auf die gleiche Weise wie mein linkes Schulterblatt?
Auf diese Weise fängst du an, deinen eigenen Körper zu spüren, die Beteiligung deines Gehirns verändert sich. Die immer aktiven Motoneuronen verändern sich und die sensorischen Neuronen werden aktiv. Sobald deine sensorischen Neuronen partizipieren, wird das Gehirn zum Zeugen, zum Empfänger. Ansonsten befindet sich das Gehirn ständig in einem Aktionsmodus und nicht in einem Empfindungsmodus.
Das ist auf jeden Lebensbereich übertragbar: Meine Handlungen haben Konsequenzen. Und wenn die Konsequenzen negativ sind, kann ich nicht einfach sagen: Ich habe es aber gut gemeint. Es geht nicht nur darum, was du im Sinn hattest, sondern was letztendlich passiert ist. Aber wenn die motorischen Neuronen zur Ruhe kommen und die sensorischen Neuronen aktiv werden, dann gibt es ein Gleichgewicht im peripheren Nervensystem. Und wenn das passiert, geht das Gehirn in einen Gefühlsmodus. Und sobald das Gehirn zu einem solchen Empfänger wird, bist du immer eine empfängliche Person, ein empfänglicher Mensch, ein empfänglicher Practitioner, in jedem Lebensbereich.
Aber gilt das nur für erfahrene Yogaübende?
Du brauchst eine gewisse Erfahrung und musst die anfänglichen Barrieren überwinden: Wenn dir in Uttanasana die Oberschenkelrückseiten wehtun, kannst du nichts anderes spüren. Du musst erst ein gewisses Niveau erreichen, um in diesen Modus zu gelangen.
Aber Gewohnheiten geben uns auch eine gewisse Sicherheit. Besonders in Zeiten, in denen das Leben auf den Kopf gestellt wird. In den vergangenen Jahren ist so viel passiert: Dein Großvater ist vor zehn Jahren gestorben, nur vier Jahre später auch deine Tante Geeta. Kurz darauf wurde die ganze Welt von der COVID-Pandemie und ihren Auswirkungen auf unser gesamtes Leben erfasst. Das alles hat auch die Lage am RIMYI in Pune sehr verändert. Du hast seither viel Verantwortung übernommen. Ich denke, dadurch hat sich auch dein Leben sehr verändert. Die ganze Iyengar-Yoga-Welt schaut jetzt auf dich.
Die Sache ist, dass das Leben selten nach Plan verläuft. Spiritualität liegt in der Erkenntnis, dass man hundert Pläne haben kann, dass die Variablen aber so zahlreich sind, dass vielleicht keiner dieser hundert Pläne funktioniert. Das wurde mir als Kind schon mitgegeben. Es ist kein fremdes Konzept. Dass nicht alles in unseren Händen liegt, ist wohlbekannt. Ich habe erst kürzlich meinen Vater verloren, er wachte nachts einfach nicht mehr aus seinem Schlaf auf. Diese Dinge passieren. Glücklicherweise haben Gott und Yoga mir die Kraft gegeben, mit diesen Dingen umzugehen, die außerhalb meiner Kontrolle liegen. Ich bin nicht der Typ Mensch, der einfach in dieser Trauer herumsitzt, weil das, was ich von meinem Großvater gelernt habe, so inspirierend und so großartig ist, dass ich es eher als meine Pflicht und Verantwortung betrachte, es weiterzugeben.
Als ich meinen Großvater verloren habe, kam es natürlich, wie bei uns allen, zu einem Stillstand. Wir haben eine 13-tägige Trauerzeit und in diesen 13 Tagen hatte ich nicht einmal den Mut, ins Institut zu gehen. Ich habe nicht geübt. Ich wollte nicht hingehen. Ich wusste nicht, wie ich mit meiner Praxis umgehen sollte, da ich wusste, dass Guruji nicht mehr da sein würde und mir sagen würde, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wie ich weiter lernen sollte, was ich lernen sollte. Als mir diese Fragen kamen, wurde mir klar, dass sich alle meine Fragen auf mich selbst bezogen: Wie soll ich weitermachen? Was soll ich tun? Das fühlte sich so unfair an. Ja, ich hatte meinen Großvater verloren und vermisse ihn. Aber meine Fragen drehten sich nur um mich: Und ich? Was ist mit mir? – Das ist eine egoistische Einstellung. In dem Moment, als mir das bewusst geworden ist, fiel es mir leichter, mich dem zu stellen und weiterzumachen.
Diese besondere Zeit, die später mit der COVID-Pandemie kam, hat nochmal vieles verändert. Auch die Art und Weise des Unterrichtens. Du bist zum Beispiel online gegangen.
Vieles hat sich verändert. Glücklicherweise hat der Virus um mich herum nicht den Boden unter meinen Füßen erschüttern lassen. Ich habe Menschen verloren, die ich kannte, aber meine unmittelbare Familie, mein engster Freundeskreis waren in Sicherheit. Ich habe ein stabiles Zuhause, ich habe eine stabile Familie, und in diesem Sinne betrachte ich es als Gnade und bin dankbar dafür, dass Stabilität da war. Es war auf jeden Fall eine ängstliche Zeit für uns alle.
Hat sich das Lehren verändert? Ich glaube, wir alle sind sensibler geworden, ich bin definitiv sensibler geworden. Es war wie eine Wiedergeburt: Wenn die Leute darüber reden, dass sie dem Tod ins Auge geblickt haben, dass sie diese paranormale Erfahrung gemacht haben und dann wieder ins Leben zurückgekehrt sind. Diese COVID-Zeit schien für jeden von uns genau das zu sein. Für jeden hier, der heute noch am Leben ist, ist es wie eine Wiedergeburt. Ich empfinde eine große Dankbarkeit, einfach hier sein zu können und das tun zu können, was ich liebe, während so viele Menschen ihr Zuhause oder ihre Arbeit verloren haben und eben nicht länger mit dem weitermachen konnten, was sie wollten. Ich bin der universalen Kraft sehr dankbar, dass sie dies möglich gemacht hat. Diese Dankbarkeit ist überwältigend und versetzt mich in Demut.
Glaubst du, dass deine Schüler jetzt eine andere Art des Unterrichts brauchen? Ich habe das Gefühl, dass sich viele Menschen im Moment sehr gestresst fühlen. Nicht nur wegen der Folgen der Pandemie, die immer noch spürbar sind, sondern auch, weil sie sich wegen der herrschenden Aggression in der Welt und deren Auswirkungen auf ihre persönliche wirtschaftliche Lage sorgen. Hat sich deshalb die Art und Weise, wie du unterrichtest, geändert?
Ich denke, sie hat sich geändert. Ich habe mich nicht bewusst dafür entschieden, anders zu unterrichten. Aber in dem Moment, in dem dir klar wird, dass du Gnade erlebt hast, dass du Glück hattest, und dann diesen armen Menschen begegnest, die ihre Mutter oder ihren Ehemann verloren haben, musst du keine Entscheidung treffen, etwas anders zu machen. Du machst es einfach.
Lass uns zu den Vor- und Nachteilen von Online-Yoga kommen, eine Form des Live-Unterrichts, die durch die Pandemie überhaupt erst entstanden ist.
Eine Sache mit Online ist, dass es die Dinge so viel bequemer gemacht hat. So wird plötzlich eine Verbindung ermöglicht, die vorher nicht denkbar war. Es hat also seinen Vorteil. Nicht jeder mag Online. Es gibt Leute, die lieber online sind, andere lieber offline.
Ein Nachteil von Online-Kursen besteht darin, dass der Lehrer nicht so in der Lage ist, Fehler zu erkennen, als wenn er direkt vor dir steht. Aber mein Gegenargument dazu ist: Braucht man immer einen Lehrer, der erkennt, dass man falsch liegt? Schaffst du das nicht alleine? So wie Guruji mich das so oft fragte: Warum muss ich dir das überhaupt sagen? Warum kannst du nicht selbst erkennen, dass dieser Fehler passiert? Warum merkst du nicht, dass sich das nicht bewegt? Oder auch: Wer hat dir das beigebracht? Das hat er mich oft gefragt: Wer hat dir das beigebracht?! Warum lernst du das nicht selber? – Für einen Schüler, der dieses Bewusstsein mitbringt, ist das Online-Medium also geeignet. Für einen aufrichtigen, empfindsamen Schüler kann ein Online-Medium funktionieren. Aber für diejenigen, die nicht in diese Kategorie fallen, sind Yogaklassen in Präsenz besser, weil es eine äußere Kraft gibt, die bestimmt, dass man sich ehrlich anstrengt und es richtig macht. Es kommt auf den Empfindsamkeitsquotienten des Schülers an.
Wenn wir zurückblicken, sehen wir oft, dass alles einen Sinn ergibt, was passiert ist und wie es passiert ist. Nicht zuletzt, weil uns gerade die Erschütterungen unseres Lebens zur Weiterentwicklung zwingen. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Wir wissen jetzt, wie Online-Yoga geht. Es war eine große Lernerfahrung. Was sind die Vorteile, die wir daraus ziehen können?
Die Konnektivität. Die soziale Verbundenheit, die ein Schüler nun aus der Ferne mit einem weit entfernten Lehrer hat, mit dem der Schüler sonst überhaupt nicht in Berührung gekommen wäre. Diese Konnektivität ist der größte Gewinn.
Die Technologie hat diese direkte Verbindung ermöglicht. Stell dir nur die Zeiten vor, in denen die Menschen Guruji noch aus aller Welt geschrieben haben. Bevor es per E-Mail möglich war, hat es zehn Tage gedauert, bis der Brief ankam, einen weiteren Tag, um zu antworten, und dann nochmal zehn Tage, bis die Antwort ankam. Es sind also zwanzig Tage vergangen! In der Zeit war das Problem, weshalb der Brief überhaupt geschrieben wurde, oft gar nicht mehr vorhanden oder es hatte sich verändert. In diesem Sinne ist diese direkte Möglichkeit der Verbindung ein großer Segen. Alles hat seine Vor- und Nachteile. Wir dürfen es nur nicht missbrauchen.
Du übst Yoga, du unterrichtest Yoga, du gibst die Lehre von deinem Großvater weiter – wenn der Yoga in einem Leben so präsent ist wie in deinem, wenn er dein Leben ist, was machst du als Ausgleich? „Normale“ Menschen würden Yoga üben… Was machst du so?
(lacht)
Liest du gern? Welches Buch liegt zum Beispiel auf deinem Nachttisch?
Ich habe früher gerne gelesen, aber mit den Kindern und angesichts ihres Alters bin ich jetzt gerade nicht in der Lage, Dinge zu tun, die ich so gerne tun würde.
Das Institut, meine eigene Yogapraxis, mein eigenes Lernen und dann die Kinder. Das nimmt einen großen Teil des Tages in Anspruch. Aber je älter die Kinder werden, desto mehr Zeit und Freiheit werde ich wieder haben, Dinge zu tun, die darüber hinausgehen.
Was tue ich also für mein Gleichgewicht? Üben hilft, mit meinen Lieben zusammen sein, Freunde treffen,… Manchmal hilft es auch, mir einen seichten Film anzusehen… (lacht)
Welche Art von Musik magst du?
Indische Klassik.
Hast du einen Instagram-Account?
Nein.
Du folgst also niemandem?
Nein.
Glaubst du, dass dein Großvater in den Sozialen Medien aktiv wäre, wenn er noch leben würde?
Wäre Guruji in den sozialen Medien aktiv gewesen, hätte er diese meiner Meinung nach genutzt, um die Menschen zu erreichen. Wenn es stimmt, was mir heute über die sozialen Medien erzählt wird, dann geht es vor allem darum, wie viele Leute mir folgen, wie viele Menschen mich mögen. Guruji war nicht der Typ, der diese Bestätigung gebraucht hätte. In diesem Sinne hätte er Instagram also nicht zur Popularisierung oder für sein Ego genutzt. Aber wenn wir ihm gesagt hätten, dass es ein Mittel ist, mit dem er Menschen erreichen kann, die etwas über Yoga wissen wollen, hätte er definitiv Interesse gezeigt.
Vielen Dank, dass du dir für dieses Gespräch Zeit genommen hast.