Übungspraxis & Anatomie
Der Einsatz der Kreppbandage für die Augen
Von B.K.S. Iyengar
Yoga Rahasya, Vol. 23, No. 4, 2016
Abhyasa November 2017 (Übersetzung Claudia Böhm)
Den Einsatz der Kreppbinde für die Augen testete ich zum ersten Mal an J. Krishnamurti. Das Hauptthema seiner Vorlesungen war immer die passive Bewusstheit und wie schwer sie zu erreichen sei. Er redete sehr oft über diesen Zustand und über das hohe Maß an Sensibilität, das dafür nötig sei. Ich konnte für mich diesen Zustand in Sanmukhi Mudra erreichen. Allerdings ist es für die Finger und Arme sehr anstrengend, länger in dieser Stellung zu verweilen. Ich sagte mir also: „Versuch’ es mit einem Stück Stoff oder Taschentuch.“ So habe ich begonnen damit zu experimentieren.
Da die Taschentücher sehr klein waren, stieg ich auf Halstücher um. Nach einiger Zeit sagte ich zu Krishnamurti: „Verehrter Herr, Sie betonen so oft den Zustand der passiven Bewusstheit und wie schwer dieser zu erreichen sei. Mit diesem Halstuch, dessen Einsatz sehr einfach ist, erreichen sie den von Ihnen beschriebenen Zustand im Nu.“ So kam es, dass ich ihm die Augen mit diesem Halstuch verband und er die gleiche Erfahrung machen konnte.
Die ganze Situation erinnerte mich an Ramakrishna Paramahansas Geschichte von den zwei Hatha Yogis, die ihm erzählten, dass sie über das Wasser gehen könnten. Der Heilige erwiderte ihnen amüsiert, dass sie, um das andere Ufer zu erreichen, auch einem Bootsmann ein paar Cents hätten geben können. Warum also diesen Aufwand an Tapas, nur um auf Wasser zu gehen? An diese Geschichte musste ich denken, und anstatt mich für das Erreichen von passiver Bewusstheit mit Sanmukhi Mudra abzumühen, konnte ich mit einem Taschentuch im Wert von 2 bis 3 Rupien einen entsprechenden Zustand erfahren. So sagte ich zu Krishnamurti: „Verehrter Herr, wozu der Einsatz von hoher Sensibilität, wenn man diesen Bewusstheitszustand mit einem Taschentuch erfahren kann?“ Er lachte.
Ich begann das Tuch für Patienten mit hohem Blutdruck, Glaukom, Netzhautablösung und anderen Augenproblemen einzusetzen. Die Betroffenen konnten so ihre Augen ausruhen. Wenn die Augen ruhen, ruhen die Nerven und das Gehirn wird still. Ich experimentierte zwar mit Krishnamurti entsprechend seinen Erklärungen, hatte aber im Hinterkopf auch die Sorge um seinen Augendruck in Salamba Sirsasana und wie ich ihn davor schützen könnte. Wie könnte die Rötung der Augen oder das Platzen von Gefäßen in Salamba Sirsasana verhindert werden? So habe ich mit dem Gebrauch der Kreppbinde begonnen.
Die Kreppbinde und Sanmukhi Mudra
Wir haben im Yoga Asana, Mudra und Bandha. Die Praxis all dessen soll die Vitalenergie speichern, kontrollieren, erhöhen und verteilen, wo immer sie benötigt wird. Die Binde ist Pattabandha und wird auf dreierlei Weise benutzt. Um die Stirn, Siropatta Bandha, um die Augen, Netrapatta Bandha, und um beide, Sironetra Patta Bandha.
Dieses Wickeln der Binde ist identisch mit Sanmukhi Mudra. Weil den Schülern das Üben von Sanmukhi Mudra schon nach fünf Minuten schwer fällt, habe ich diese Methode für das Eintreten des Effekts von Sanmukhi Mudra erfunden. Man erreicht damit das Zurückziehen der Sinne, weg von der Außenwelt in die Innenwelt des Körpers.
Die Sinne der Wahrnehmung, Augen und Ohren, sind nahe bei Gehirn und Geist, und jede dort verursachte Störung führt zu Ablenkung und Zerstreuung. Sind die Augen die Fenster des Gehirns, so sind die Ohren die Fenster des Bewusstseins. Die Augen treten schnell hervor, wenn das Gehirn aktiv ist. Sie bewegen sich bei auftretenden Störungen auch im Schlaf.
Geräusche stören das Bewusstsein und verursachen Stress im Gehirn. Kleinste Vibrationen werden vom Gehör schneller wahrgenommen als von jedem elektronischen Gerät und beeinflussen sowohl Geist als auch Gehirn. Auch wenn die Ohren im Gegensatz zu den Augen rein äußerlich keine Bewegung zeigen, kann doch eingeschränktes Hörvermögen wahrgenommen werden. Die Augen wiederum reagieren schnell und sehen dann hart und angespannt aus.
Sanmukha bedeutet „sechsgesichtig“. Entsprechend der indischen Mythologie ist Kartikeya (Sohn von Gott Shiva) der Führer der göttlichen Armee. Mudra bedeutet Verschluss oder Versiegelung. Karteyka ist als großer und mutiger Krieger bekannt. Beim Menschen sind Augen, Nase, Zunge, Haut, Ohren und Geist die sechs Gesichter.
In Sanmukhi Mudra werden die Handflächen und Finger an den Augen, Ohren, Nasenhöhlen und den Oberlippen so aufgelegt und ausgerichtet, dass das Gehirn passiv und der Geist wach gehalten werden; dann ziehen beide sich nach innen, so dass man die Anwesenheit der Seele spürt.
Anfänglich legte ich noch persönlich jedem einzelnen Schüler in Savasana oder im Sitzen die Hände für Sanmukhi Mudra auf. Sogar jetzt sieht man mich zuweilen, wie ich mich persönlich um einige Schüler mit emotionalen Schwierigkeiten, Ruhelosigkeit, Blutdruck-, Augen und Ohrenproblemen kümmere. In den fünfziger Jahren kamen ein paar Schüler mit Glaukom, Kurzsichtigkeit, Ohren-, Kopfschmerzen und Migräne zu mir in Behandlung. Da es schwierig war, sie alle zur gleichen Zeit mit Sanmukhi Mudra zu versorgen, band ich ihnen Bandagen um die Augen. Ich wickelte die Binden so von vorne nach hinten um die Augen, dass die Schläfennerven sich in Richtung Ohren bewegten, wie in Sanmukhi Mudra durch den Einsatz der Hände. Ich legte meist eine kleine, runde Platte von ca. 7 cm Durchmesser auf die Stirn, um die Augen zu beruhigen und sie vom Hinterhirn zu trennen. Dies verschaffte den Augen große Entlastung. So begann ich eine alternative Möglichkeit für Sanmukhi Mudra und seine positive Wirkung zu entwickeln, ohne Arme und Finger zu überanstrengen.
Der leichte Druck der Bandage entspannt Muskeln und Nerven am Hinterhirn. Da die Augen und Ohren sich nach innen zum Selbst zurückziehen, kommen die Vibrationen in den Sinnesorganen, das Pulsieren im Gehirn und das Flattern des Geistes zum Stillstand. Das Verbinden der Augen stoppt die Fluktuationen rasch und bringt Gehirn und Geist in einen Zustand passiver Bewusstheit. Der Organismus erfährt so Manolaya und Citta Nirodha (passiver Geist und ohne Gedanken bei voller Bewusstheit). Das Verbinden der Augen hilft also den Schülern, die Qualität der Stille (Manolaya) zu erfahren. Nachdem die Schüler diesen Zustand mit der Augenbinde erreicht hatten, sollten sie lernen Manolaya ohne Binde anzustreben.
Der therapeutische Nutzen der Kreppbandage
Wer unter hohem Blutdruck leidet, kann in Salamba Sirsasana, Salamba Sarvangasana, Halasana, Setu Bandha Sarvangasana und Viparita Karani den Blutdruck mit dem Wickeln der Binde um die Augen normalisieren.
Bei Kopfschmerzen, Augenbrennen, Glaukom und Netzhautablösung ist die Bandage nicht nur hilfreich, sondern sollte in jedem Fall wie ein Ritual sowohl vorbeugend als auch therapeutisch eingesetzt werden. Bei Bluthochdruck, Glaukom und Netzhautablösung sollte die Binde (Siropattabandha) um Augenbrauen oder Hinterhirn gebunden werden. Das bringt die Augenlider auch ohne Einsatz der Finger abwärts. Bei Augeninfektion oder einigen ernsten Problemen sollten die Augen mit einer gefalteten Bandage bedeckt werden.
Bei Irritation, Anspannung und Überanstrengung des Gehirns, bei Wutausbrüchen, Schwindel, verschwommener Sicht oder Brennen der Augen, sollte die Bandage bei allen Asanas getragen werden. Auf jeden Fall sollten in Savasana Augen und Stirn (Sironetra Patta Bandha) bedeckt sein. Bei Faulheit, Dumpfheit oder Niedergeschlagenheit sollten die Asanas mit offenen Augen praktiziert werden.
In den frühen Jahren meines Unterrichts hatte ich die Idee, kleine Säckchen mit weichem Getreide zu füllen, um den Effekt von Sanmukhi Mudra zu verstärken. Später benutzten dann viele Leute Sandsäcke. Ich empfehle Grießmehl, da es besser als Sand ist. Der Sandstaub könnte in die Augen dringen und sie infizieren. Die Bandage aus weicher Baumwolle oder die ganz normale medizinische Bandage, wie sie in Kliniken verwendet wird, kann als Verband um Stirn, Kopf und Augen benutzt werden. Wickelt man die Bandage um den Kopf, fühlen sich die Augen kühl, die Ohren weich und Gehirn und Geist so still an wie in Sanmukhi Mudra.
Heute benutzen viele von uns die Kreppbandage wie alle anderen Hilfsmittel auch, für alles. Das mache ich nicht. Ich benutze sie nur, wenn nötig. Warum sollte ich sie unnötigerweise einsetzen?
Wenn man sie ohne speziellen Grund einsetzt, macht sie einen dumpf und führt nicht zu passiver Bewusstheit. Wenn Du mich als Erfinder dieser Hilfsmittel fragst, „was ist gut an ihnen und was nicht?“, antworte ich Dir, dass sie bei konstruktivem Gebrauch Gutes bewirken. Werden sie aber für eine träge Yogapraxis genommen, hast Du definitiv auch einen tamasischen Effekt. Obwohl ich der Erfinder dieses Hilfsmittels bin, antworte ich auf die Frage, was daran gut ist und was nicht, Folgendes: Bei konstruktivem Gebrauch wird es Gutes bewirken. Werden die Binden aber für eine träge Yogapraxis genommen, wird sich definitiv auch ein tamasischer Effekt einstellen.
Das tamasische und träge Üben ruft scheinbar einen friedlichen Zustand hervor, dieser kann aber ohne Helligkeit nicht wahrgenommen werden. Nur die sattvische Praxis lässt durch ihr Licht diesen friedvollen Zustand erfahrbar werden. Der Einsatz von Hilfsmitteln sollte einem wachsenden Bedürfnis nach Erkenntnis und Feinfühligkeit entspringen.
Ohne Zweifel sind Hilfsmittel gut. Sie können die Verweilzeit im Asana verlängern. Diese Extrazeit im Asana kann man als Kraftwerk für die Verstärkung der intellektuellen Feinfühligkeit des ganzen Körpersystems nutzen. In diesem Fall kann ich sagen, dass die Hilfsmittel großartige Freunde und ein Segen sind. Wenn man aber für das Verweilen in einem Asana komplett von ihnen abhängig ist, macht es einen dumpf und inaktiv. Dann ist das Ganze ein Fluch. Yoga ist Freiheit. In diesem Fall aber wäre es anstelle von Freiheit Knechtschaft. Ein und das gleiche Hilfsmittel kann Freiheit oder Knechtschaft bedeuten. Es kommt immer darauf an, wie und warum und zu welchem Zweck man es einsetzt.