Übungspraxis & Anatomie

Gewohnheit ist eine Krankheit

Von Abhijata Sridhar Iyengar

Habit is a disease, Yoga Rahasya, Vol 17. Nr. 1, 2010
Übersetzung für die Abhyasa April 2021: Marina Pagel

Abhijata hielt diesen Vortrag zu Ehren von Gurujis 91. Geburtstag am 14. Dezember 2009. Nach einer kurzen Ansprache leitete sie den Vortrag mit folgenden Fragen ein:

  • Was lehrt uns Guruji?
  • Was lernen wir von Guruji?
  • Was hat unsere Verbindung mit ihm  zu unserem Leben beigetragen?
  • Was hat mein Lernen zu meinem Leben beigetragen?

Wie diese Fragen bekunden, möchte ich mit euch eine Begebenheit teilen, die in diesem Jahr passiert ist. Eines Morgens praktizierte ich in diesem Saal Marichyasana, die Drehhaltung. Guruji kam in den Raum, um seine Übungssession zu absolvieren. Er sah  mich mein Marichyasana üben und fragte mich in einem Ton, der alles andere als  humorvoll war: „Wann wirst du endlich lernen?“

Ich war ein wenig überrascht. Guruji hatte mich gerade einen Tag vorher in Marichyasana unterrichtet, und ich wiederholte genau seine Anweisungen, um sie noch einmal zu vertiefen. „Was machst du da?“, fragte er. Ich sagte: „Guruji, ich übe, was du mir gestern beigebracht hast.“ Er schlug sich an die Stirn und sagte: „Was du gestern getan hast, machst du heute genauso?“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und lächelte nur.

„Warum geht Yoga nicht in  deinen Kopf?“ fragte er. Beim Weggehen wandte er sich noch einmal zurück und sagte in einem Ton, der tiefste Intensität, Besorgnis und Überzeugung ausdrückte: „Gewohnheit  ist eine Krankheit.“ Er ging. Ich war verwirrt. Die Art und Weise, wie er das sagte,  brachte mich völlig durcheinander. Es erschütterte mich. Ich übte dasselbe Marichyasana, das er mich am Vortag gelehrt hatte, und das war falsch? Ehrlich – ich  übte aufrichtig und ernsthaft. Meiner Meinung nach machte ich es richtig. Ich war  alarmiert; ich erinnerte die gestrige Session sehr genau. Obwohl ich exakt so übte, wie er es mir einen Tag vorher beigebacht  hatte, nannte er es eine Krankheit? Wie kann Gewohnheit eine Krankheit sein?

Das schien überhaupt keinen Sinn zu ergeben. Gleichzeitig war es Guruji, der das sagte. Es waren also sicher keine Worte, die ich einfach missachten konnte. Ich war verwirrt und bestürzt. Viele Fragen drängten sich in meinem Kopf. Es ist meine Gewohnheit, meine Zähne zu putzen. Wie kann das ein Leiden sein? Es ist meine Gewohnheit, zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen. Es ist am Ende auch meine Gewohnheit zu üben! Zweifel tauchten auf. Ebenso der Gedanke, dass es eben Guruji war, der diese Worte gesagt hatte. Ich konnte sie also auf keinen Fall ignorieren. Wenn ich denke, ich übe, um mein Marichyasana zu verbessern, mache ich dann nicht etwas Richtiges? Was ist eine Gewohnheit (habit)? Wie ist es, in Abhängigkeit (habituation) zu geraten?

Gemäß Chambers Wörterbuch bedeutet habituation: Der Prozess, sich an etwas zu gewöhnen; erworbene Toleranz für ein Medikament, das dadurch seine Wirkung verliert; Entwicklung psychischer, jedoch nicht physischer Abhängigkeit von einer Droge.

Gemäß dem Oxford-Wörterbuch bedeutet disease: eine spezielle, als negativ  eingestufte Qualität oder Veranlagung, von der eine Person oder eine Personengruppe betroffen ist. Während ich diese Definitionen bedachte, frage ich mich: Bin ich nur dabei mich zu gewöhnen? Verliert meine Praxis ihre Wirkung? Entwickle ich eine psychische Abhängigkeit? Werde ich von negativen Qualitäten beeinflusst? Oder wir alle? Wenn wir von Guruji lernen, von Geetaji, von Prashantji, von ihren Klassen, ihren Büchern, ihren Aktionen, ihren Berührungen, ihren Blicken … tappen wir in eine Falle? Eine Falle aus Missverständnissen und Fehlinterpretationen?

„Gewohnheit ist eine Bemühung, die für  ihre Ausführung keinen bewussten Denkprozess erfordert.“

In meinen eigenen Worten formuliert, bedeutet Gewohnheit eine Bemühung oder Anstrengung, die für ihre  Ausführung meinen bewussten Denkprozess nicht erfordert. Wohl könnte ein  Nebeneffekt dessen darin bestehen, dass mein Denkprozess getrübt wird.

YS II.18 – Prakasha kriya sthiti sheelam bhootendriyaatmakam  bhogaapavargaartham drishyam.

Die Natur mit ihren drei Qualitäten sattva, rajas und tamas, und ihren Entwicklungen, den Elementen, dem Geist, den Sinnes- und Handlungsorganen, sie existieren auf ewig, um dem Seher zu dienen, dem Genuss oder der Befreiung. Bhoga ist das Vergnügen und apavarga ist Befreiung. Lasst uns zurückkommen zu meinen ursprünglichen Beispielen von Marichyasana. Marichyasana kann entweder zu bhoga führen oder zu apavarga.

  • Was ist mein eigentlicher Grund, der hetu, Marichyasana zu üben?
  • Warum mache ich Marichyasana?
  • Warum übe ich?
  • Warum besuche ich den Unterricht?

Ich glaube, dass Befreiung nicht für den gewöhnlichen Menschen wie mich bestimmt ist. Es ist etwas für Yogis, Heilige und Weise. Was dann bleibt, ist bhoga – Behagen. Aber abhängig davon, wer die Frage stellt, könnte ich sogar sagen, dass ich Marichyasana übe, den Unterricht besuche mit dem Ziel adhyatma, also um Wissen zu erlangen.

Um ehrlich zu sein, ich übe Marichyasana, um meinen Körper zu drehen, ich übe  Marichyasana, um fähig zu sein, mein Handgelenk hinten zu halten, um mir ein  Vergnügen zu gönnen, das Vergnügen des Drehens, das Vergnügen, meine Arme um mich herumzuwickeln, das Vergnügen zu wissen, dass es meinem Körper zugutekommt. Ich gebe zu, dass ich Marichyasana tatsächlich wegen des Vergnügens übe, wegen bhoga.

Wenn wir daran gewöhnt sind, etwas zu tun, tun wir es üblicherweise, weil es uns eine Erleichterung schenkt oder Freude. Eine Handlung wird zu einer Gewohnheit, wenn wir denken, dass sie uns Dividenden zahlt. Wenn es in einer Handlung eine Unbequemlichkeit gibt, vermeiden wir es gewöhnlich, diese Handlung auszuführen. Schmerz zu vermeiden ist eine Handlungsweise, die der Erleichterung, der Behaglichkeit dient. Leben findet seit Zeitaltern in solcher Form statt, dass die Bemühungen dahin zielen, Schmerz zu vermeiden und Freude zu wiederholen.

Einmal ließ mich Guruji Virasana mit meinen Fußrücken auf einem Eisenstab und den Knien auf Holzklötzen üben. Es war schmerzhaft. Sosehr ich mich auch dazu zwang, in Virasana niederzusitzen, mein Körper schien seinen eigenen Kopf zu haben und weigerte sich einfach, vollständig in Virasana zu sitzen. Guruji sagte: „Sitz!“, und ich saß. Er fragte mich, wie es sich anfühlt. Ich sagte: „Es ist sehr schmerzhaft.“ Er sagte: „Wer hat dich nach den Schmerzen gefragt?“ Die einzige Rückmeldung, die ich wahrnehmen konnte, war Schmerz, und für Guruji hatte das keinen Wert.

Wir sind es gewohnt und geübt darin, auf Schmerz nur unter einem Aspekt zu schauen – vermeide, beseitige den Schmerz und werde ihn los. Es macht den Eindruck, als ob Schmerz für Guruji eine vollkommen anderes Konzept wäre. Wir betrachten Schmerz vom Gesichtspunkt des bhoga – des Behagens. Guruji lehrt uns, auf Schmerzen zu achten, die zu apavarga führen – Befreiung. Für gewöhnlich schauen wir aber nicht im Geringsten dahin.

Für uns gibt Schmerz dukha – Kummer, und Behagen gibt sukha – ein Gefühl der Zugehörigkeit. Das ist unsere lineare Lebensgleichung.

YS II.7 – Sukhanushayi ragah

Vergnügen führt zu Sehnsucht und emotionaler Anhaftung.

YS II.8 – Dukhanushayi dveshah

Unglück führt zu Hass.

Dies bringt uns mittenhinein in die Pole der Dualität, was wiederum eine Falle ist.

Außerdem ist unsere Vorstellung davon, was Leiden ist und was Leiden verursacht, sehr eng. Wir funktionieren nach einer bestimmten, automatisch ablaufenden Denkweise. Wir sind trainiert, Dinge in ein Muster einzupassen und nach Verhaltensmustern Ausschau zu halten. Das macht die Dinge für uns bequem. Beispielsweise schätzen wir keine schiefen Zähne. Wir finden es nicht richtig, schiefe Zähne zu haben. Wir halten helle Haut in einem solchen Ausmaß hoch, dass wir dunkle Haut für eine Störung halten! Groß ist gut und klein ist nicht so gut. Fett ist nicht attraktiv und super-schlank ist in. Unser Konzept von Gesundheit und Schönheit ist oft zweifelhaft.

Tatsächlich mag das, was gesund ist, nicht immer auf den ersten Blick schön sein, und was schön aussieht, muss nicht wirklich gesund sein. Was würden wir bevorzugen – unser Paschimottanasana oder Paschimottanasana mit dem Gesicht über den Fußgelenken? Was würden wir bevorzugen – unser Trikonasana oder Trikonasana mit der Hand auf dem Boden?

Eines Tages ließ mich Guruji Setubandha Sarvangasana auf einer horizontalen Setubandha-Sarvangasana-Bank machen und presste meine Oberschenkel in Padmasana. Für mich schien es, als wenn ich in Urdhva Padma Mayurasana ginge. Diese Haltung ist eine Tortur für mich, ich habe sie noch nie vorher gemacht. Ich habe mich ganz fest gemacht und meine Beine kämpften mit aller Kraft gegen Gurujis Druck. Guruji sagte zu mir: „Wehr dich nicht!“ Ich wünschte mir sogar, ich könnte ihm gehorchen. Aber der Schmerz, die Angst vor mehr Schmerz hielten mich zurück. Er sagte: „Wein um diesen Schmerz. Das ist alles. Aber was hier in deinem inneren unteren Körper passiert, ist unvergleichlich. Du zerbrichst die Hindernisse (auch wenn ich zugeben muss, dass es schien, als würde mein Rücken brechen!), damit die Intelligenz durchströmen kann. Du hast überall Hindernisse!“

Ein Hindernis zu durchbrechen scheint eine hochgradig schwierige Aufgabe zu sein. Was leicht ist, kann ich machen. Wenn es schwierig wird, ziehe ich mich in mein Schneckenhaus zurück. Gewohnheit ist tatsächlich ein Hindernis. Eine Barriere, die uns daran hindert, zu sehen, was möglich wäre!

In den einfachsten Worten ausgedrückt: Schmerz oder Angst vor Schmerz, an den ich mich nicht erinnern kann, hemmte mich, das Hindernis zu durchbrechen. Wissen wir, was ein Hindernis ist? Begreifen wir überhaupt, dass ein Hindernis da ist? Oftmals scheitern wir daran, ein Hindernis als ein solches zu erkennen. Wir geben ihm verschiedene Namen wie Methodenlehre, System, Sicherheit und Gefahrenvermeidung. Sind wir dadurch in unseren eigenen Gedanken eingekerkert? Wird manchmal Sicherheit zu unserem Gefängnis? Das gestrige Marichyasana hat ein Hindernis um mich gebaut, so dass ich noch nicht einmal versuche, das Marichyasana von heute zu sehen.

Es scheint mir, dass Gurujis Sprache oft nur verstanden wird auf einer Ebene, auf der wir die Werkzeuge haben, sie zu verstehen. Wir müssen Rezeptoren entwickeln, um seine Sprache zu verstehen. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, in Gurujis Worte zu schauen.

„Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, Gurujis Sprache zu verstehen und in Gurujis Worte zu schauen.“

Einmal ließ er mich Uttanasana auf einem Stuhl stehend machen, die Zehen ragten über die Sitzfläche hinaus. Er sagte: „Schau, wie viel Furcht da ist. Lass einfach los. Es gibt körperliche Furcht – Furcht im großen Zeh. Öffne den Bogen des großen Zehs.“ Davon habe ich nur das technische Detail des großen Zehs aufgenommen. Ich ignorierte einfach, was er über die Furcht sagte. Der Zusammenhang, der so viel zum Verständnis und zur Weiterentwicklung beiträgt, wird einfach vernachlässigt. Wir nehmen diese Nachlässigkeit als etwas außerhalb unseres Vermögens.

Unser Geist ist in den Dualitäten des Lebens gefangen – Schmerz und Genuss, Behagen und Unbehagen, richtig und falsch, Sicherheit und Unsicherheit, korrekt oder inkorrekt. Wir wählen das, was unserer Meinung nach richtig ist, und denken dabei gewohnheitsmäßig von dem anderen Pol als der falschen Option. Guruji sagt: „Du schaust nur, um die Sinne in deinen Asanas zu befriedigen. Diese Art, Yoga zu üben, ist weit weg von dir.“

Lasst mich versuchen, ‚Gewohnheit‘ aufzublättern. Gewohnheit kann geprüft werden und herrscht auf drei Existenzebenen: der persönlichen, der sozialen und der  kosmologischen.

Persönliche Gewohnheiten

Eines Tages aß ich mit Guruji zu Mittag. Schüler hatten ihm Jalebis (indischer Nachtisch) geschenkt. Wie es für ihn typisch ist, wird er in 95 von 100 Malen das benutzen, was ein Schüler ihm gibt. Einmal hatte ihm jemand Ohrringe geschenkt. Er nutzte sie, indem er sie an mich weitergab!

Jedenfalls weigerte ich mich, die Jalebis zu probieren, weil ich sie nicht mag. Guruji fragte mich irritiert: „Wer hat dir erzählt, dass du keine Jalebis magst?“ Ich sagte: „Ich weiß es.“ Er antwortete: „Das letzte Mal, als du ein bestimmtes Jalebi gegessen hast, mochtest du sie nicht. Daraus entsteht keine Regel, dass du keine Jalebis magst. Du veränderst dich. Die Jalebis sind unterschiedlich. Wie kannst du annehmen, dass du sie nicht magst?“

So habe ich die Vergangenheit wiederbelebt und ihr erlaubt, die Gegenwart so stark zu formen! Wir sind gewohnt daran, Dinge wegen der Erinnerung nicht loszulassen!

YS I.11 – Anubhoota vishaya asampramoshah smrtih.

Die Erinnerung ist die unveränderte Rückbesinnung auf Wörter und Erfahrungen.

Was ist Erinnerung?

Wir legen in unseren Lagerraum der Intelligenz / des Kopfes bestimmte Dinge ab; bestimmte Dinge gehen unbewusst in unser Lagerhaus. Immer wenn ein passender Reiz vorbeikommt, kommen unsere Eindrücke aus der  Vergangenheit auf die Vorderseite. Das Gedächtnis ist diese Erinnerung. Erinnerung ist ein vrtti, eine mentale Veränderung.

YS I.5 – Vrttayah panchatayyah klishtaa aklishtah

Die Bewegungen des Bewusstseins sind fünffach. Sie können erkennbar oder nicht erkennbar, schmerzhaft oder nicht schmerzhaft sein.

Also ist die Erinnerung klishta oder aklishta. Wir sollten uns bewusst sein, wann Erinnerung, also die Vergangenheit, uns führt, und ob es klishta oder aklishta ist. Eher mehr als weniger handeln wir aus der Erinnerung und nicht aus der Akzeptanz des gegenwärtigen Moments. Wenn ein bestimmter Reiz einen Vorfall aus der Vergangenheit aufruft, sollte unsere Umsicht eingreifen und analysieren, ob diese Erinnerung im gegenwärtigen Zusammenhang gebraucht wird. Gewohnheitsgemäß überprüfen wir das oft nicht; wir haben eine Gewohnheit entwickelt, die Vergangenheit einfach für uns gelten zu lassen. Unsere Vorstellung von der Zukunft basiert auf der Vergangenheit. Wir machen unsere Wahl, gegründet auf raga und dvesha. Wir mögen jemanden nicht, weil die Erinnerung uns diese Information im gegenwärtigen Moment eingibt, ohne Rücksicht darauf, ob diese Person nun verdient, gemocht oder nicht gemocht zu werden. Wir wählen ein bestimmtes Asana, weil die Erinnerung uns das sagt. Wir vermeiden ein bestimmtes Asana, weil die Erinnerung uns das sagt.

Unser Wirken dreht sich also um unsere Vergangenheit, so wie mein Marichyasana sich um das Marichyasana meiner Vergangenheit dreht! Das wird klesa. Klesa ist Leid. Natürlich beziehe ich mich hier auf das klishta-Gedächtnis. Wir sollten dem aklishta-Gedächtnis  dankbar sein, weil wir sonst Guruji nicht wiedererkennen würden!

Im Unterricht nehmen wir selten die Gefühle der Stunde auf; wir zeichnen den Unterricht als ‚Punkt‘ in unserem Geist auf. Wie viele Male erfassen wir etwas bewusst, ohne es in Bezug auf unsere Ausführung dieser Haltung in der Vergangenheit zu lesen?

Während mich Guruji einmal Paschimottanasana lehrte, sagte er: „Mach das nicht aus dem Gedächtnis.“ Im Grunde sagte er mir, ich solle das Gedächtnis loslassen! Wir hängen am Gedächtnis. Wir hängen am Komfort und der Sicherheit, die das Gedächtnis uns gibt. Ich war im Marichyasana von gestern gefangen.

Einmal sagte er mir: „Warum kannst du nicht daran denken? Warum soll ich dich ständig erinnern?“ Ich antwortete: „Ich habe keinen Anhaltspunkt. Aber es muss unmöglich für dich sein, so aus dem Gedächtnis zu lehren! Woher kommt dieses Wissen?“ Er sagte: „Oh, nicht das Gedächtnis! Überhaupt nicht! Die Intuition führt mich zu einer Haltung.“ Guruji sagte: „Das Gedächtnis ist begrenzt. Yoga ist unendlich. Tu es mit einem scharfen Sinn für Achtsamkeit.“

Soziale Gewohnheiten

Lasst uns auf eine örtliche Erscheinung schauen – Verkehrsampeln. Wenn die Ampel rot ist, halten einige von uns natürlich an. Einige andere haben die Angewohnheit, die Regeln zu brechen. Wenn die Ampel von rot zu grün wechselt, warten manche von uns darauf, dass die ersten Fahrzeuge anfahren, damit unser Fahrzeug auch losfahren kann. Einige haben dann die Angewohnheit, den anstehenden Wechsel von rot zu grün herbei zu hupen. Regeln zu befolgen oder sie zu brechen ist eine Angewohnheit. Regeln zu folgen kann konfliktreich werden, wenn wir darauf stolz sind, das zu tun, weil dann Anhaftung herrscht.

Klishta-Gewohnheiten kommen beispielsweise ins Spiel, wenn wir bestimmten Regeln sehr entschieden folgen und wir sehr vehement gegen jemanden Position beziehen, der ihnen nicht folgt. Denn in uns entsteht dann ein Gefühl– ein Gefühl von Ärger gegenüber der Person, die die Regeln bricht.

Wir packen normalerweise Gewohnheiten in zwei Kategorien – gute und schlechte. Jedoch gibt es in Wirklichkeit vier Typen:

  • klishta-Gewohnheiten, die gute Muster sind
  • klishta-Gewohnheiten, die schlechte Muster sind
  • aklishta-Gewohnheiten, die gute Muster sind
  • aklishta-Gewohnheiten, die schlechte Muster sind

Wir könnten in jeder dieser Kategorien beliebig viele Beispiele finden. Wir erkennen sie nicht und schon sind wir in die Falle getappt.

Kosmologische Gewohnheiten

Nehmen wir ein alltägliches Beispiel. Die meisten kennen die Invocation, Yogena chittasya. Wir könnten das Gebet bisher, sagen wir mal, 500 bis 2000 Male rezitiert haben. Wie viele Male haben wir es dabei wirklich mit Engagement rezitiert? Hören wir, was die Lehrer*innen während der Invocation der Klasse mitteilen? Oder hören wir unsere Gedanken darüber, was nach Harih Om folgen wird – Adho Mukha Virasana oder Handstand? Wir denken darüber nach, in welcher Woche im Monat diese Klasse stattfindet. Das bestimmt unsere Motivation, an der Klasse teilzunehmen, wohin wir unsere Matte legen – unter den Ventilator, nah am Fenster, weit weg von der Plattform etc. So spielt die jeweilige Woche eine Hauptrolle in unserer Gebets-Session.

Ein Gebet ist ein Mittel des Gedenkens daran, dass ich mit dem Universum verbunden bin, mit dem Kosmos. Für uns wird die Gebets-Session ein bloßes Ritual, das Resultat einer Gewohnheit. Betrügen wir uns aus Gewohnheit selbst?

Was ich jetzt noch sagen will, mag für viele schwer verdaulich sein. Aber ich möchte diese Gedanken mit euch teilen. Lernen wir? Lernen wir wirklich?

„Lernen wir? Lernen wir wirklich? Wir leihen uns kontinuierlich Gurujis Einsichten & Erfahrung und bezeichnen das als Lernen.“

Wir leihen uns kontinuierlich Gurujis Einsichten und Erfahrung, bezeichnen diesen Vorgang bequem als Lernen und interpretieren diesen Prozess dann als unser persönliches Studium. Geben wir dabei unsere eigenen Denkprozesse auf und nennen wir das Aufrichtigkeit? Guruji sagt: „Du solltest lernen, das Gedächtnis ordentlich zu benutzen. Weil du dem Gedächtnis verpflichtet bist, hinderst du deinen Fortschritt. Du bleibst stehen.“

Ich denke, wir üben Asanas mit einer Checkliste. Wenn wir Adho Mukha Svanasana ausführen, haben wir ein Modell im Kopf, das sagt: Ellenbogen fest, Schulterblätter rein, Flanken hoch, Oberschenkel zurück. Wir vergleichen unser Anweisungshandbuch im Kopf mit der gegenwärtigen Ausführung. Wir machen erst einmal eine Zufallsauswahl von dem, was wir nicht gemacht haben, tun das und haken das ab. Falls noch Zeit in der Haltung verbleibt, haken wir ab, was wir gemacht haben und kommen raus aus der Haltung. Ist es nicht möglich, dass wir auf diese Art eine  Schranke, eine Begrenzung vor unsere Erfahrung setzen?

Wie Guruji sagt: „Das Bekannte hat Grenzen. Das Unbekannte ist unermesslich ohne
Beschränkungen.“

„Das Bekannte hat Grenzen. Das Unbekannte ist unermesslich ohne Beschränkungen.“

Unsere Reise in ein Asana sollte vom Bekannten ins Unbekannte gehen. Aber wir gehen vom Bekannten ins Bekannte ins Bekannte! Wie können wir aus dem Haus gehen, wenn wir die Tür nicht öffnen? Wie können wir uns neuere Gefühle und Erfahrungen erschließen, wenn wir gefangen sind im Rahmen einer Checkliste?

Eines Tages, als ich Rückbeugen übte, nahm ich wahr, dass mein Kreuzbein nicht wirklich mitmachte, aber ich machte einfach weiter im Rückbeugen-Ritual. Guruji sah das und meinte, dass das Kreuzbein sich überhaupt nicht bewege. Er ließ mich stehend Rückbeugen machen mit den Füßen wie Charlie Chaplin. Wirklich! Er wies an, die Fersen beieinander zu lassen und die Zehen auseinander zu drehen, wobei die Beine gegurtet waren und mein  Kreuzbein an der Kante vom Trestler, und ich bog und bog und bog mich zurück. Als er mir das so erklärte, war ich zunächst geschockt. Ich hatte Angst, Angst, es falsch zu  machen. Wie könnte diese Art der Rückbeugen richtig sein? Ich fühlte mich unsicher. Wird das nicht meinen Rücken quetschen? Wird das nicht mein Kreuzbein verletzen?

Diese Fragen kamen mir, weil mich mein Gedächtnis warnte. Gleichzeitig war es Guruji, der mich anwies. So übte ich mit gemischten Gefühlen, was ich machen sollte. Aber die Angst übernahm die Führung, und ich fragte ihn, wie das richtig sein könne? Er lächelte und sagte: „Auf diese Art reagiert dein Kreuzbein besser.“ Diese schlichte Antwort verwirrte mich. Das war alles? Es reagiert besser! Ich gebe zu, wenn die Antwort kompliziert gewesen wäre, hätte ich mich glücklich und zufrieden gefühlt. Wenn er gesagt hätte, die Füße so zu stellen, wirkt auf die Fußgelenke und Schienbeine, und diese Drehung aktiviert die Gluteus-Muskeln, was einen schärfenden Effekt auf das Steißbein hat, dann hätte mich das sehr gefreut.

Mit der einfachen Antwort fühlte ich mich irgendwie kleiner. Sieht aus wie ein verzärteltes Ego mit Leistungskomplex! Ist es das Komplizierte, das meine sogenannten Denkprozesse und meine Intelligenz befriedigt?

Einmal sagte Guruji: „Die Leute sagen, ich sei ein Genie. Ich sage: Quatsch! Es geht nicht darum, genial zu sein. Es geht darum, den gesunden Menschenverstand zu benutzen.“ Können es sich die Füße also leisten, in Urdhva Dhanurasana auszudrehen? Ist es richtig, stehende Rückbeugen auf diese Art zu üben? Wir sind gefangen in den Konzepten von richtig oder falsch. Wir tun Dinge, die passend sind und nehmen an, dass das die richtige Entscheidung ist. Wenn wir eine moralisch hohe Ebene einnehmen und etwas ‚Richtiges‘ tun, obwohl es unangenehm ist, legt sich ein sattes Behagen über uns, weil wir glauben, wir haben es gut und richtig gemacht. Es gibt uns eine Streicheleinheit und ein Gefühl der Befriedigung.

Lasst uns das Beispiel der Ausrichtung nehmen. Guruji hatte mich unterrichtet, Rope 1 mit einem Bein vorne und einem Bein hinten zu üben, damit eines der Schulterblätter aktiv arbeitet. Guruji ließ mich Viparita Dandasana mit einem Fuß höher als dem anderen machen, um eine Gesäßbacke zu erreichen. Ich zitiere diese Beispiele, weil es Guruji war, der mich anwies.

  • Wenn es nicht Guruji gewesen wäre, der das sagte, wie hätte ich regiert?
  • Wenn ich einen anderen das so hätte machen sehen, was hätte ich getan? Wie wäre meine Meinung gewesen? Was wäre unsere Meinung gewesen?

Wir hätten uns schlichtweg verweigert. Wir mögen sogar glauben, dass Guruji sich widerspricht. Dieser offensichtliche Widerspruch, dieser scheinbare Widerspruch ist das Ergebnis von Einfühlungsvermögen.

„Der Mann, dem wir diese Methode zuschreiben, sieht diese nicht als eine begrenzte Methode.“

Der Mann, dem wir diese Methode  zuschreiben, sieht diese Methode nicht als begrenzt. Für ihn ist die Methode offen – offen für Erforschung. Aber für uns gibt es ein paar Vorstellungen, die wir gekauft haben, sie werden verstärkt durch unsere Gedanken, diese Erinnerungsstränge werden zu Gewohnheiten, wir werden unnachgiebig, weil wir diese Gewohnheiten für die ‚richtigen‘ und andere Möglichkeiten für die ‚falschen‘ halten. Sind unsere Vorstellungen in den Bereich der Unabänderlichkeit, der Unumstößlichkeit, der Verhärtung  eingetreten? Dabei kann eine Gewohnheit solche Verhärtungen auf subtile Art und  Weise weiter festigen.

Denkt daran, wie oft uns Guruji gesagt hat „Falsch! Falsch!“, wenn wir eine Haltung üben, wenn wir unserer Meinung nach genau das tun, was uns Guruji in der Vergangenheit gesagt hat, nämlich aus genau der Checkliste, die uns  Guruji gegeben hat? Wir müssen erkennen, dass richtig oder falsch relativ ist, subjektiv und kontextabhängig.

Was richtig für dich ist, mag für mich falsch sein. Was für mich jetzt richtig ist, kann morgen für mich falsch sein. Mein gestriges Marichyasana war gestern vorbei. Heute ist es eine andere Geschichte.

Guruji sagte in einer der Übungsstunden zum wiederholten Mal: „Asanas haben ihren yogischen Sinn euretwegen verloren. Ihr macht Asanas für bhoga, deshalb sind sie ‚Bhogasanas‘ geworden.“

Guruji lehrt uns Yoga. Er nutzt die Metapher des Körpers. Wir beziehen das nur auf den physischen Körper. Es ist unsere Gewohnheit, nicht auf das größere Bild zu schauen. Wir sollten lernen, Gurujis Sprache zu entschlüsseln. Wir sollten Rezeptoren für Yoga entwickeln.

„Gewohnheit ist tatsächlich eine Krankheit. Das Heilmittel ist, offen zu sein, einfühlsam und achtsam.“ 

Gewohnheit ist tatsächlich eine Krankheit. Was ist das Heilmittel? Es ist, offen zu sein, einfühlsam und achtsam. Auf diese Art und Weise können sich unsere Asanas weiterentwickeln. Wir können auf die Reise gehen von bhoga zu apavarga, und das kann unser Leben verändern.

Guruji sagt: „Apavarga ist das Selbst, das aus dem Gefängnis kommt.“

Siehe auch Interview mit Abhijata Iyengar

Foto: RIMYI-Archiv