Philosophie

Yoga – Musik für Leib und Seele

Vortrag von B.K.S. Iyengar, Juli 1984, Davis Hall, San Francisco

Aus: Astadala Yogamala Volume 2, Sec. III, S.224ff
Übersetzung: Andrea Jakob für Abhyasa Juni 2016
Gekürzt für den Blog von Carolin Tieskötter

Yoga ist die vollendete Abstimmung bzw. das Ausbalancieren verschiedener Bereiche und Übergänge in Körper, Geist, Bewusstsein, Ego und dem wahren Wesen.

Die Oberfläche eines Sees ist immer eben, auch wenn der Seegrund uneben ist. Obwohl der Körper, vergleichbar einem See, viele Vertiefungen aufweist, ist es möglich, den Fluss des Bewusstseins gleichmäßig fließen zu lassen. Das ist es, was Yoga uns lehrt.

Jede Zelle des Körpers tritt mit den anderen Zellen in Kontakt und erscheint dem Übenden als Individuum. Sie alle haben ihre eigene nonverbale Sprache.

Die Asana-Praxis verfeinert die Intelligenz des Übenden, indem sie die Unreinheiten von Körper und Geist beseitigt und somit die Krone der Weisheit in jedem Einzelnen erstrahlen lässt, wodurch er freundlich und mitfühlend gegenüber sich, seiner Umgebung und seiner Gesellschaft wird.  Das ist es, was die Kunst des Yoga die Menschheit lehrt.

Yoga ist Musik für Leib und Seele. Die beste Musik ist Stille. Stille hat ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene Melodie.
Friede zusammen mit Stille führen zu Wohlklang der Musik der Seele.

Die Schwingungen des Atems ohne jegliche Bewegung des Körpers sind Stille im Zustand der Ruhe. Diese Stille gibt es nicht nur im Körper, sondern auch im Geist. Diese Stille und Ruhe des Geistes führen zum jetzigen Augenblick. Solange man Zeuge einer Bewegung ist, ohne an ihr beteiligt zu sein, hat man von Augenblick zu Augenblick Anteil an der göttlichen Musik.

Ein kränklicher Körper kann die göttliche Musik weder hören noch erleben. Der wichtigste Schlüssel zur Gesundheit ist die Kunst, das Atmungssystem mittels Pranyama richtig einzusetzen, um dadurch den bestmöglichen Nutzen aus der bionuklearen Energie, d.h. der Einatemluft zu ziehen und somit jede Zelle unseres Systems mit nuklearer Energie zu versorgen. Die Nervenfasern, welche nichts anderes als Saiten eines Instruments – des Körpers – sind, schwingen dann rhythmisch und wohlklingend und erzeugen himmlische Musik.

Die Sinnesorgane nehmen den äußeren Körper wahr. Wir sehen den gesamten äußeren Körper mit den Augen, wogegen wir die Innenseite ausschließlich über Empfindungen wahrnehmen können.

Nur Feinfühligkeit verhilft uns zu spüren.

Um den inneren Raum zu spüren, müssen Energie, Intelligenz und die Sinne der Wahrnehmung nach innen gerichtet werden. Das Gleichgewicht zwischen Bewusstheit und dem Unbewussten wird erlernt.

Dann unterscheidet man nicht länger zwischen unterbewussten, unbewussten oder bewussten Bereichen. Sie sind alle eins. Wenn diese Bereiche eins werden, nennt man das überbewusst. So begleitet Pratyahara die Ausführung der Asanas.

Bei der Ausführung von Asana und Pranayama kann man zwei Stufen unterscheiden.

Ein Anfänger gibt wieder, zeigt vor und handelt. An einem gewissen Punkt beginnt er jedoch über sein Tun nachzusinnen. Die Tat ist Karma und das Sinnen ist Jnana. Sobald Karma und Jnana, Tat und Nachsinnen zusammenkommen, beginnt das spirituelle Sadhana. Zweifellos eint Sadhana (Praxis) den physikalischen und den spirituellen Körper.

Sobald jede Zelle individuell arbeitet und in Freiheit lebt, ist auch das Selbst frei. Das kennzeichnet Kaivalya.

Falls an einer Stelle des Körpers Schmerzen auftreten und am anderen identischen Körperteil nicht, so untersuche den Körperteil mit Schmerzen und jenen ohne Schmerzen. Wie gehst du dabei vor? Wiederhole die Bewegung mehrfach und finde heraus, wie der Schmerz entsteht und wann er ausbleibt, und kehre den Vorgang um (pratipaksa). Passe die Haltung der schlechten bzw. betroffenen Seite an die der guten Seite an, dann wird sowohl das gute als auch das schlechte Empfinden verschwinden. Dies ist die Melodie, welche während unserer Übungspraxis erfahrbar sein soll. Ähnlich verhält es sich, wenn man sich dem Ärger zuwendet und ihn studiert, denn dann verschwinden sowohl Ärger und Gewalt als auch deren Gegenteile. Der Übende erlangt Klarheit in seinem Urteil. Der Ausgangspunkt mag Aggressivität sein, jedoch führt Nachsinnen zu Nicht-Aggressivität. Die Praxis von Asana und Pranayama lehrt jede einzelne Zelle die Gewaltlosigkeit (Ahimsa).

Lerne also deine Aufmerksamkeit auf die Seite zu richten, die vernachlässigt ist. Versuche den inneren Klang (Nada) an jener Stelle zu fühlen, an der keine Überstreckung stattfindet.

Indem du beide Hälften des Körpers beobachtest und gleichmäßig abstimmst und in Einklang bringst,
gibt sich dir die Wahrheit zu erkennen und alle Grobheit und Ungeschliffenheit verschwindet.

Ihr wisst alle, dass Brahmacarya Keuschheit bedeutet. Ihr wisst nicht, wie der Zustand von Keuschheit im Asana erfahrbar ist. Sobald sowohl die rechte wie auch die linke, die vordere wie auch die hintere, die äußere wie auch die innere Seite des Körpers im Gleichklang gestimmt worden sind, wird sich der Geist über den Körper erheben. Du haftest nicht länger an deinem Körper und vergisst ihn. Der Geist ist eingestimmt und fließt mit dem Selbst. In deinem Inneren findest du eine göttliche Melodie – eine göttliche Musik. Die Umkehr des Stromes deiner (pranischen) Bio- Energie, deines Geistes, deiner Intelligenz und deines Bewusstseins von außen nach innen ist Brahmacarya.

In der Asana-Praxis lernt man, die inneren Strukturen je nach Leistungsvermögen ohne Belastung oder Spannung in den inneren Raum des Körpers auszudehnen. Auf diese Art lernst du die Hingabe von Körper und Geist. Die kleinste Spur von Rastlosigkeit zeigt sich unmittelbar in deinem Blick. Wisse, dass du dann etwas falsch machst. Ruhe bringt ein Gleichgewicht in die Zellen und den Geist und macht beide aufnahmefähig. In der vollkommenen Ausführung der Haltung ist die Hingabe des Selbst an Asana gleichbedeutend mit isvara pranidhana (Hingabe an den inneren Gott).

Sobald der physikalische und der physiologische Körper miteinander verschmelzen, kommen beide Körper in Berührung mit dem Geist. Der Geist wendet sich an den Verstand: ,,Diese Zelle teilt mir etwas mit, bitte höre zu!“ Das Asana muss auf zellulärer Ebene ausgerichtet werden. Jedes Asana hat eigene Richtungen für Drehung und Streckung. Jede Zelle muss dazu an ihren Platz. Durch die Zelle entsteht beim Sadhaka die Verbindung zum Selbst und durch das Selbst Verbindung zur einzelnen Zelle, vergleichbar der Verbindung eines Musikers zu seinem Instrument und der Musik.

Während der Ausführung von Asana wird einerseits die Intelligenz vom Selbst auf die Gliedmaßen gerichtet und andererseits die Intelligenz der Gliedmaßen zurück auf das Selbst. Energie, welche vom Selbst zu den Gliedmaßen gerichtet ist, bezeichnet die ausgehende Energie, jene, welche von den Gliedmaßen zum Selbst gerichtet ist, bezeichnet die ankommende Energie.

Diese auf- und absteigende Energiebewegung zwischen Körper, Geist und Selbst ist die Musik der Seele.
Diese beiden Energien in Einklang zu bringen, ist das Wesen von Asana.

Patanjali sagt: Prayatna saithilya Ananta samapattibhyam (11.47). Sobald sich die mühevolle Anstrengung in eine mühelose Anstrengung verwandelt, berührst du den feinen Klang des Asana. Auf ebendiese Weise musst du diese mühelose Anstrengung in jedem Asana erreichen. Sobald du dir ein Asana zu eigen gemacht hast, verschwinden die Widerspruche zwischen Gelenken, Muskeln und allen Systemen. Die Verschiedenheit zwischen Körper und

Geist löst sich auf und du lebst nicht länger als abgetrenntes Individuum, sondern als geeinte Persönlichkeit. In meinen Bemühungen um ein Asana bin ich ein Individuum bis zu dem Moment, an welchem die Mühelosigkeit einsetzt. Ab diesem Moment gibt es keine Individualität mehr, kein Ego, kein Ich und Du, lediglich Nada, einzig die Musik.

Falsche Bewegungen sind Energieverschwendung. Sich zehn Mal in ein Asana zu stürzen und immer wieder zu versagen, ist keine Praxis. Musik wird niemals so geübt. Wenn

es dir nicht gelingt, dann lasse es, was macht das schon? Habe Geduld, sei sanft, da alle Bewegungen Sanftheit und nicht Strenge benötigen. Bewegung ist wie das Fahren in einem Aufzug, und Strenge ist wie eine Bremse. Wie könnten sie miteinander Schritt halten? Das Ergebnis muss Verletzung sein. Du musst jedem Muskel, der wie ein Rad arbeitet, Raum geben. Jeder Muskel, jede Zelle ist ein Rädchen im menschlichen System.

Die Yogapraxis sollte angefüllt sein mit Sauca, Santosa, Tapah, Svadhyaya und lsvarapranidhana.

Sauca bedeutet Reinheit. Wenn ich mein Fingergelenk wärmen möchte, muss ich es lediglich dehnen, damit das Blut zirkuliert. Berühre direkt und spüre die Bewegung! Das ist Sauca.

Die Yogapraxis erfordert enormes Gewahrsein.

Geht die ununterbrochene Aufmerksamkeit verloren, tappst du im Dunklen. Du bist im Ungewissen und weißt nicht, was du tun sollst. Wenn plötzlich das Licht erlischt, kann es sein, dass dein Nervensystem in eine Art Schwebezustand verfällt und für Tage, Wochen oder Monate nicht an die Oberfläche zurückkehrt.

Deshalb muss besonders die Asana-Praxis mit ungeheurer Bewusstheit durchgeführt werden und nicht mit übersteigertem Ehrgeiz im Kopf. „Ich will das machen!“

Lerne zunächst das Unkraut zu bekämpfen, damit die Pflanze Asana gut gedeihen kann. Dazu brauchst du einen gesunden Geist und einen klaren Verstand. Das ist Sauca: ich habe den Körper gereinigt, ich habe die Nerven gereinigt. Was habe ich von dieser Reinheit? – Rhythmus – und das ist Zufriedenheit. Aufgrund guter Zirkulation hat sich eine gesunde Empfindung in allen Teile ausgebreitet. Gesundheit mag kommen, jedoch ist Reinheit die Voraussetzung dafür. Mit dieser Gesundheit und Reinheit beginnt der eigentliche Yogapfad.

Nach Sauca und Santosa beginnt die harte Arbeit mit Tapas, Svadhyaya und lsvarapranidhana.

Patanjali sagt nicht: „Habe Genuss, habe Vergnügen!“, sondern „Wachse über Genuss und Vergnügen hinaus!“ Er möchte, dass wir einen ungeheuren inneren Drang und ein inneres Streben entwickeln, um in Form von Tapas weiter durchzudringen. Bei dieser Suche entsteht das Wissen des Körpers, das Wissen der Muskeln, der Organe, der Nerven und des Verstandes. Dies ist Svadyaya. Aus diesem Streben heraus entwickelst du die Selbstdisziplin, dich zu erforschen, was mit „Erkenne dich selbst!“ bezeichnet wird. Sich selbst zu kennen ist erstrebenswert. Santosa bedeutet nicht nur Freude durch Zufriedenheit, sondern ebenso Streben. Jedes Organ muss leben und sich selbst lieben und lächeln! Der Magen muss lächeln, die Eingeweide müssen lächeln.

Mit wachsendem Interesse beginnt die Suche nach dem Selbst. Bei dieser Suche musst du mit dir selbst eins werden durch Asana.

Bei der Ausführung eines Asana ist das Asana für mich zunächst Objekt und ich Subjekt. Ich erforsche das Asana. Sobald ich alles über das Asana-Objekt herausgefunden habe, dringe ich in das Objekt ein, verliere meine Identität, das Objekt wird zum Subjekt und ich werde Objekt. Ich werde zum Zeugen. Das ist Isvarapranidhana. Mein Selbst wird Zeuge des universellen kosmischen Gefüges in jedem Asana. Dies ist die wirkliche, spirituelle yogische Praxis. Sobald der ungehobelte, unechte Yoga endet, beginnt der wahrhaftige Yoga. Sich selbst auf die gesundheitlichen Aspekte zu beschränken, ist unechter Yoga. Nachdem man Gesundheit erlangt hat, muss man wahren Yoga praktizieren. Wahrhaftiger Yoga ist die Lehre der Befreiung, eine Wissenschaft der Freiheit. So gesehen kann man nicht bei Gesundheit und Zufriedenheit aufhören, was weit verbreitet ist. Man muss noch einen Schritt weiter gehen, sorgfältig arbeiten, jede einzelne Zelle beobachten und aufpassen, dass sie sich der Willenskraft unterordnet. Sobald das Wollen des Geistes sich mit dem Wollen des Selbst vereint, ist es Hatha Yoga.

Das Alter macht viele ängstlich. Menschen fürchten sich vor dem Älterwerden, weil sie glauben, dass das Alter einen von Asana und Pranayama abhält. Bedenke: Die Seele ist zeitlos. Alter wird vom Verstand erzeugt, das Selbst altert nicht. Oftmals werde ich gefragt. Wie können Asanas im Alter ausgeführt werden? Wird es nicht schädlich sein? Warum sollte man Zweifel an einer guten Praxis haben?

Warum sollte man diese in Frage stellen? Sei nicht besorgt. Wenn du üble Dinge wie Alkohol, Rauchen, Sex und anderes missbrauchen kannst, warum nicht auch mehr von den guten Dingen des Lebens? Wenn du die guten Dinge mehr gebrauchst, wirst du ein gutes Ergebnis erzielen; durch Gebrauch der schlechten Dinge wirst du krank werden. Dann musst du dir das Rauchen abgewöhnen und mit dem Trinken aufhören. Wenn du Gutes tust, musst du damit nicht aushören, da nichts Schlechtes passieren kann. Dieser Vorteil besteht für immer.

Ich bitte meine Schüler, während des Unterrichtens ihre Schüler mehr zu schützen als sich selbst. Stelle dich als Lehrer nicht auf den Standpunkt, dass du dich selbst schützt, damit du deinen Schülern in Zukunft besser helfen kannst.

Lass dieses altehrwürdige Wissen von einer Generation zur nächsten fließen wie den Klang der Musik. Kunst ist unendlich, aber wir sind an endliche Zeiträume gebunden.

Die Rishis (Seher, denen die Veden in höheren Bewusstseinszuständen offenbart wurden) von einst taten recht daran, uns zu raten, das Wissen an die nächste Generation weiterzugeben.

Wir leben möglicherweise nicht mehr, aber die Kunst wird für immer lebendig und kraftvoll sein.